Vorausgegangen waren dreitägige Debatten und eine Reihe ergebnisloser Versuche, einen Vorsitzenden des Parlaments (Parlamentspräsident) zu wählen. Gemäß der bulgarischen Verfassung werden auf der konstituierenden Sitzung des Parlaments unter Leitung des ältesten anwesenden Abgeordneten der Parlamentspräsident und seine Stellvertreter gewählt, wobei dafür die Mehrheit der Hälfte der anwesenden Abgeordneten erforderlich ist. Traditionell schlägt in Bulgarien die stärkste Fraktion, jetzt GERB, einen Kandidaten vor, es hat aber in der Vergangenheit Ausnahmen von dieser Regel gegeben.
Die jüngste Parlamentswahl vom 2. Oktober hat zu einem fragmentierten Parlament ohne klare Mehrheitsverhältnisse geführt, deshalb kam es im Plenarsaal zu einer Reihe von Kampfabstimmungen zwischen Kandidaten für das Amt des Parlamentspräsidenten aus verschiedenen Fraktionen, von denen aber keiner die erforderliche absolute Mehrheit zu erreichen vermochte. Zunächst waren vier Kandidaten aufgestellt: Rossen Scheljaskow von GERB, Nikola Mintschew von der zweistärksten Fraktion „Wir setzen den Wandel fort“ (PP), die vor der letzten Wahl den Regierungschef stellte, Kristian Wigenin von der Bulgarischen Sozialistischen Partei (BSP), Nachfolgerin der Bulgarischen Kommunistischen Partei vor 1990 sowie Petar Petrow von der nationalistischen „Wasraschdane“-Partei (Wiedergeburt). Die Stichwahl zwischen Rossen Scheljaskow, für den 103 Angeordnete votierten und Nikola Mintschew, der 98 Stimmen bekam, brachte keine Entscheidung, weil sich 110 Abgeordnete der Stimme enthielten und infolgedessen kein Kandidat die Mehrheit der insgesamt 240 Stimmen erreichte. Danach wurden weitere Kandidaten aufgestellt und zurückgezogen, immer wieder neue Kompromissvarianten ins Spiel gebracht und verworfen sowie neue fruchtlose Abstimmungen durchgeführt. Die Mehrheit zugunsten der Kandidatur von Weschdi Raschidow zeichnete sich schließlich bei den Beratungen zwischen den Fraktionen am vergangenen Freitag ab. Seine Nominierung wurde von der Vorsitzenden der Bulgarischen Sozialistischen Partei (BSP), Kornelia Ninowa, im Namen der Fraktionen von GERB, der BSP, der Bewegung für Rechte und Freiheiten (DPS), die die türkische Minderheit vertritt und der kleinen Partei „Bulgarischer Aufstieg“ (BW), die zum ersten Mal im Parlament vertreten ist, vorgestellt. Weschdi Raschidow wurde daraufhin mit 139 Ja-Stimmen von GERB, der DPS, BSP und BW gewählt. Gegen ihn votierten 73 Abgeordnete von der Partei „Wir setzen den Wandel fort“ (PP) und der bürgerlichen Koalition „Demokratisches Bulgarien“ (DB). 27 Enthaltungen kamen von der Partei „Wasraschdane“ (Wiedergeburt).
Weschdi Raschidow hatte seine Nominierung am Donnerstag in einer emotionalen Rede zunächst mit der Begründung zurückgezogen, dass er eigentlich Künstler und zufällig Abgeordneter geworden sei und ihn die Konfrontation zwischen den Parteien abschrecke,
hat sich aber danach offenbar umstimmen lassen. „Ich werde einen Teil der mir verbleibenden Jahre im Namen des bulgarischen Volkes opfern“, sagte er nach seiner Wahl.
Danach wählte das Parlament mit der absoluten Mehrheit von 234 Stimmen sieben stellvertretende Parlamentspräsidenten, je einen aus jeder Fraktion.
Weschdi Raschidow ist türkischer Abstammung, von Haus aus Bildhauer und Maler und gehört zu den profilierten bulgarischen Künstlern. In den Medien wurde ihm in den letzten Tagen vorgehalten, dass er in den 1990er Jahren eine große Nähe zur damals ein-flussreichen Wirtschaftsholding „Multigroup“ gehabt habe, die laut einem Bericht des BND ein wichtiger Teil der organisierten Kriminalität in Bulgarien war. Nach der Ermordung ihres Chefs Ilija Pawlow im Jahre 2003 spielte Multigroup fortan allerdings keine große Rolle mehr. Weschdi Raschidow hat kommentiert, dass er nicht eine Minute für Multigroup gearbeitet habe, aber ein Freund von Ilija Pawlow gewesen sei, was nicht verwerflich sei, er verrate seine Freunde nicht.
Die Abstimmung über den Parlamentspräsidenten hat Spekulationen über eine mögliche künftige Regierungskoalition ausgelöst. Bisher war von einer äußerst problematischen Regierungsbildung auszugehen, da sich im Parlament keine klaren Mehrheiten abzeichneten. Die BSP hatte nach den Wahlen erklärt, dass sie eine GERB-Regierung nicht unterstützen würde. In ihrem Rückhalt für Weschdi Raschidow sehen manche Beobachter aber ein Indiz für einen möglichen Sinneswandel. Die GERB-Fraktionsvorsitzende Dessis-lawa Atanasowa sagte, dass die Koalition für die Wahl des Parlamentspräsidenten situativ gewesen sei, sie schloss jedoch eine weitere Zusammenarbeit dieser Parteien nicht aus. Die Vorsitzende der Sozialisten Kornelia Ninowa hingegen äußerte, dass Weschdi Raschidow „nicht als Vertreter einer Partei gewählt wurde, sondern um den Staat nicht zu blockieren“. Ihre Partei werde eine Regierung mit dem Mandat von GERB nicht unterstützen.
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