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Déjà vu – Die Ukraine vor den Parlamentswahlen am 30. September

von Nico Lange
Nur 18 Monate nach den letzten Wahlen zur Werchowna Rada werden die ukrainischen Bürger am 30. September erneut zu den Wahlurnen gebeten. Vorangegangen waren nicht nur die gescheiterte Koalitionsbildung der ehemals „orangenen“ Kräfte und verbissen ausgetragene Machtkonflikte zwischen Präsident und Ministerkabinett. Zur Eskalation der Lage trug vor allem der umstrittene Erlass des Präsidenten Juschtschenko zur Auflösung des Parlaments im April bei. Mit den vorgezogenen Neuwahlen und den danach zu erwartenden schwierigen Koalitionsverhandlungen und Verfassungsdiskussionen wird in der Ukraine nun also eine neue Runde der politischen Auseinandersetzung eingeläutet.

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Widerstand gegen Neuwahlen gebrochen

Noch vor wenigen Wochen kam es zu heftigen Feindseligkeiten zwischen den Protagonisten Juschtschenko, Janukowytsch, Moros und Tymoschenko, daneben die orchestrierten Massenproteste und Blockaden des Verfassungsgerichts und anderer Institutionen. Im Vergleich dazu verlaufen Wahlvorbereitungen und Kampagnenführung für die vorgezogenen Parlamentswahlen am 30. September auch nach dem Ende der Sommerpause bisher ungewöhnlich ruhig. Selbst Parlamentssprecher Moros, der zuvor aufgrund des zu erwartenden Ausscheidens seiner Sozialistischen Partei aus der Werchowna Rada alle nur erdenklichen Hebel zur Verhinderung der Neuwahlen in Gang gesetzt hatte, scheint den Widerstand mittlerweile aufgegeben zu haben. Nach mehreren erfolglosen Versuchen im Juli und August setzte Moros für den 4. September zwar noch einmal eine Sitzung des nominell aufgelösten Parlaments an. Er findet dabei von einem Teil der Partei der Regionen Unterstützung, das tatsächliche Zustandekommen von Beschlussfähigkeit oder gar die Verhinderung der Neuwahlen scheinen jedoch nicht mehr möglich. Die Zentrale Wahlkommission, die während des Höhepunkts der Krise durch permanente Krankmeldungen der Mitglieder und extreme politische Einflussnahme blockiert wurde, hat mittlerweile trotz der konfliktträchtigen paritätischen Besetzung des Gremiums die wesentlichen Entscheidungen für die Durchführung der Wahlen auf den Weg gebracht. Mit der zeitweiligen Ablehnung der Registrierung des Blocks Julia Tymoschenko durch die Zentrale Wahlkommission waren zuletzt noch kleinere Störmanöver zu beobachten, dieser Konflikt wurde jedoch schnell gelöst.

Acht Parteien im propräsidentiellen Block vereint

Damit steht die Ukraine nunmehr vor einer Neuauflage der Parlamentswahlen vom März 2006. Die alleinige Veränderung zum Vorjahr in Bezug auf die teilnehmenden Parteien besteht im neuen propräsidentiellen Wahlbündnis „Nascha Ukraina – Selbstverteidigung des Volkes“ (NU-NS). Nach langem Ringen und nur durch teilweise sehr schmerzhafte Zugeständnisse ist es der Volksunion Nascha Ukraina gelungen, die Konkurrenz im eigenen politischen Lager abzuschwächen und alle existierenden Kräfte des Mitte-Rechts-Spektrums sowie die neue Bewegung Selbstverteidigung des Volkes des ehemaligen Innenministers Luzenko auf einer gemeinsamen Liste zu vereinen. Die Deklaration des Wahlbündnisses aus Volksunion Nascha Ukraina (Kyrylenko), Vpered Ukraina/Selbstverteidigung des Volkes (Luzenko), Rukh (Tarasjuk), Ukrainischer Volkspartei (Kostenko), Sobor (Matwijenko), Partei der Vaterlandsschützer (Karmasin), Europäischer Partei der Ukraine (Kateryntschuk) und Christlich Demokratischer Union (Stretowytsch) enthält darüber hinaus ausdrücklich das Bekenntnis zur Formation einer gemeinsamen Partei nach den Wahlen. Ob das neue Bündnis halten wird und tatsächlich in dieser Zusammensetzung zu einer größeren Partei weiterentwickelt werden kann, wird jedoch vom Wahlausgang und vor allem von der Zusammensetzung der neuen Regierungskoalition abhängen. Mit der erfolgreichen Blockbildung mit Spitzenkandidaten wie Luzenko, Kyrylenko, Jazenjuk, Kateryntschuk und einem Durchschnittsalter von 38 Jahren der ersten zehn Kandidaten ist es zunächst durchaus gelungen, Nascha Ukraina als reformiert zu präsentieren und deutlich besser als noch im vergangenen Jahr für die Wahlen aufzustellen.´

Der Block Julia Tymoschenko (BJUT) und die Partei der Regionen (PdR) gehen dagegen mit zum März 2006 kaum veränderten Listen in die Wahlen. Die Partei der Regionen gewährte lediglich führenden Mitgliedern anderer Parteien sichere Listenplätze, um sie für den Wechsel in die Regierungskoalition und die Kooperation zu belohnen. Unterschlupf fanden die stellvertretende Justizministerin Bohoslovska (Witsche) ebenso wie Katastrophenschutzminister Schufritsch (SDPU) und Wirtschaftsminister Kinach, der mit dem Frontenwechsel seiner Partei der Unternehmer und Industriellen im April zur Eskalation der Krise maßgeblich beigetragen hatte. Insgesamt konnte innerhalb der Partei der Regionen die „junge“ Donezker Fraktion um den Unternehmer Achmetow und den ihm nahestehenden Wahlkampfleiter Kolesnikow durch die Zusammensetzung der Wahlliste ihre Position gegenüber den „alten“ Donezkern um Janukowytsch und seinen Stellvertreter Asarow leicht verbessern. Im Block Julia Tymoschenko spielt neben Tymoschenkos eigener Partei Batkiwschtschyna nunmehr die liberale Partei Reformen und Ordnung des ehemaligen Finanzministers Pynsenyk eine größere Rolle. Pynsenyk selbst soll als durchaus etablierter Wirtschaftsfachmann die vielfach angezweifelten Kompetenzen des Teams von Tymoschenko im ökonomischen Bereich stärken. Mit der Besetzung der ersten Plätze durch Tymoschenko, Turchinow, Tomenko, Schewtschenko und Omelchenko bietet die Liste sonst keinerlei Neuerungen oder Überraschungen.

Soziale Versprechungen bestimmen alle Wahlprogramme

Die von den drei großen Wahlbündnissen auf den respektiven Wahlparteitagen im August beschlossenen Wahlprogramme weisen erstaunliche Ähnlichkeiten zueinander auf. Während außenpolitische Themen nur noch eine untergeordnete Rolle spielen und wirtschaftspolitisch kaum konkrete Punkte eingebracht wurden, herrscht bei den Versprechungen großzügiger Sozialleistungen geradezu ein Überbietungswettbewerb. Alle Parteien kündigen für den Fall des Wahlsieges starke Erhöhungen der Einmalzahlungen für die Geburten von Kindern und des Kindergelds an. Rentenerhöhungen und Anhebungen der Mindestlöhne sowie der Stipendien für Studierende sind ohnehin traditionelle Inhalte ukrainischer Wahlprogramme und werden von allen Parteien zugesagt. Darüber hinaus reicht der Katalog der Versprechungen von der Einführung des allgemeinen Rechts auf einen ersten Arbeitsplatz und kostenlosen Wohnungen für Staatsangestellte (PdR) bis hin zu neuen Krankenversicherungssystemen (NU-NS, BJUT) , Verdopplung der Investitionen für Schulen und öffentliche Einrichtungen im ländlichen Raum (PdR, NU-NS) sowie der Installation von Internetanschlüssen in allen Siedlungspunkten und Schulen (PdR, NU-NS, BJUT). Alle Parteien fordern außerdem die rigorose Vereinfachung des Steuersystems und wollen gegen Korruption kämpfen, ohne jedoch konkrete Instrumente oder Steuermodelle auszuführen. Insgesamt sind die Wahlprogramme der drei großen Blöcke zwar detaillierter als in vorangegangen Kampagnen, die umfangreichen versprochenen Leistungen sind allerdings fragmentarisch, in keinerlei Gesamtkonzept eingebunden und letztlich kaum als seriös zu bezeichnen. Konzeptionelle Ansätze zur Realisierung der Vorhaben oder realistische Schritte zur Umsetzung sind nicht erkennbar.

In den wenig kontroversen Wahlprogrammen und einem eklatanten Mangel an der Vermittlung konkurrierender Leitbilder für die Zukunft der Ukraine liegt sicher ein Grund für den bisher schleppenden Wahlkampf und das geringe öffentliche Interesse. Wirklich polarisierende Themen fehlen, direkte Angriffe auf den politischen Gegner werden peinlichst vermieden, über die vormals konfliktträchtigen Themen NATO-Mitgliedschaft oder die Einführung von Russisch als zweiter Amtssprache wird von den großen Parteien nicht gesprochen und in Bezug auf die EU herrscht ohnehin breiter Konsens. Auch das Schema der gegenseitigen Beschuldigungen und der moralisch aufgeladenen Einteilung in „gute“ und „böse“ Kräfte, d.h. prowestlich/prorussisch bzw. demokratisch/antidemokratisch, das am Endpunkt der Kutschma-Ära sowie während und nach der Orangenen Revolution hohe Tragfähigkeit aufwies, wird von der Mehrzahl der Ukrainer nicht mehr akzeptiert. Gründe dafür liegen in der Diskreditierung der vormals „orangenen“ Parteien durch die Peinlichkeiten der gescheiterten Regierungsbildung und die Finanzskandale des letzten Jahres sowie die unter demokratischen und verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten fragwürdigen Handlungen des Präsidenten.

Voraussichtlich drei bis fünf neue Parteien im Parlament

Folgerichtig sind auch in Bezug auf das erwartete Wahlergebnis mit hoher Wahrscheinlichkeit nur marginale Veränderungen gegenüber März 2006 (PdR 32 %, BJUT 22 %, NU 14 %) zu prognostizieren. Am Wahlabend ist Hochspannung jedoch dennoch garantiert, denn eine Wiederholung des Wahlgebnisses vom März 2006 bedeutet ein erneutes Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen der Partei der Regionen und einer möglichen Mehrheit für Nascha Ukraina – Selbstverteidigung des Volkes und dem Block Julia Tymoschenko. Auch wenn die Partei der Regionen mit Abstand die stärkste Kraft bleiben wird - durch den Ausfall der Sozialisten und das mögliche Scheitern der Kommunisten an der Drei-Prozent-Hürde ist eine regierungsfähige Mehrheit keineswegs sicher. In diesem Zusammenhang bleibt eine spannende Frage, wer als stärkste Kraft aus der jetzigen Opposition hervorgehen wird und somit künftig die Führung des vormals „orangenen“ Lagers übernimmt. Außerdem wird von enormer Bedeutung sein, welche Partei neben den drei Großen die Drei-Prozent Hürde überwinden kann und möglicherweise als „Joker“ in die Werchowna Rada einzieht. Realistische Chancen bestehen vor allem für die Kommunisten, aber auch mögliche Überraschungen durch den liberalen Block Lytwyn oder die Progressiven Sozialisten von Witrenko sind nicht ausgeschlossen.

Änderungen des Wahlgesetzes enthalten auch Rückschritte

Unterdessen äußerten bereits zum jetzigen Zeitpunkt internationale und ukrainische Beobachter Kritik an der neuen Wahlgesetzgebung und der Kampagnenführung der politischen Akteure. Während die Wahlen 2006 durch alle internationalen Beobachter als frei und fair beurteilt wurden und sicher als wegweisend für den gesamten GUS-Raum gelten können, ist eine Wiederholung der Einhaltung der demokratischen Standards derzeit keineswegs garantiert. Die in den letzten Sitzungen der Werchowna Rada im Juni eilig beschlossenen Änderungen zum Wahlgesetz stellen in Teilen erhebliche Rückschritte zu den vorhergehenden Regelungen dar. Insbesondere die Öffnung der Möglichkeiten für die Wahl zu Hause an der „wandernden“ Wahlurne ohne ausführliche Begründung oder Gesundheitsprüfung sowie die Streichung der drei Tage vor den Wahlen ins Ausland gereisten Ukrainer ohne vorherige Veröffentlichung und Prüfung der Streichungslisten eröffnen Möglichkeiten für nur schwer kontrollierbare Manipulationen. Auch die nunmehr zwingend notwendige Abgabe der Stimme am Ort der behördlichen Registrierung führt vor dem Hintergrund der verbreiteten Praxis des Wohnens außerhalb des Registrierungsortes zu möglichen Stimmenverlusten. Eben diese Regelung erschwert letztlich den von den ukrainischen Parteien entsandten Wahlbeobachtern die Anreise in entfernte Regionen, wenn nicht ihre eigene Stimme verloren gehen soll. Des Weiteren wiesen Wahlbeobachter bereits kritisch auf eine ganze Reihe von staatlichen Amtsträgern aller politischen Couleur hin, die administrative Ressourcen für den Wahlkampf nutzen oder während ihrer Arbeitszeit als Staatsdiener Wahlkampf betreiben.

Problematisch sind diese – wenn auch teilweise geringfügigen – Verstöße gegen das Wahlgesetz vor allem, weil sie eine Grundlage für die unmittelbare Anfechtung des Wahlergebnisses durch die jeweils unterlegene Partei nach dem 30. September bieten könnten. Da die erforderlichen konfliktlösenden Instanzen bis hin zum Verfassungsgericht durch die Krise im Frühjahr praktisch außer Kraft gesetzt wurden, könnten Versuche einer juristischen Anfechtung des Wahlergebnisses direkt wieder in eine neue Eskalation des bekannten Machtkonflikts führen.

Dass die Durchführung der Neuwahlen allein keinen Ausweg aus der strukturellen Dauerkrise der ukrainischen Verfassungsinstitutionen bieten kann, ist ohnehin bekannt. Von ausschlaggebendem Gewicht wird sein, ob alle Beteiligten den Wahlausgang akzeptieren, wenn die internationalen Wahlbeobachter die Durchführung der Wahlen als frei und fair bestätigen. Nur mit der vorbehaltlosen Anerkennung des Ergebnisses und einer zügigen Regierungsbildung können die Grundlagen für die dringend notwendige Auflösung der widersprüchlichen Verfassungslage und Kompetenzverteilung zwischen Präsident und Parlament geschaffen werden. Ob dies gelingt oder ob direkt nach den Wahlen mit dem Rückfall in die bekannten Konfrontations- uns Blockademuster der letzten zwölf Monate ein weiteres ukrainisches déjà vu droht, ist derzeit absolut offen.

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In eigener Sache: Am 04.09.2007 erscheint das „Wahlhandbuch Ukraine 2007“ der KAS Kiew. In dieser Publikation werden wir das ukrainische Wahlgesetz mit den neuen Änderungen, die an der Wahl teilnehmenden Parteien und Blöcke sowie deren Wahlprogramme und Spitzenkandidaten ausführlich vorstellen.

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