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Lukaschenko lässt die politischen Gefangenen frei

von Dr. Wolfgang Sender
Am 22. August 2015 – rund eineinhalb Monate vor den anstehenden Präsidentenwahlen – hat der weißrussische Präsident Alexander Lukaschenko überraschend die politischen Gefangenen in Belarus begnadigt. Dies ist eine der zentralen Voraussetzungen für bessere Beziehungen mit dem Westen. Für substanziell bessere Beziehungen muss Minsk jedoch noch einen weiten Weg gehen.

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Die von der weißrussischen Menschenrechtsorganisation Viasna geführte Liste der politischen Gefangenen hat sich über Nacht geleert: Am Abend des 22. August wurden auf Geheiß des weißrussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko alle Personen freigelassen, die bis dahin durch Menschenrechtsorganisationen als politische Gefangene gezählt wurden. Nikolai Dedok, Igor Olinewitsch, Artjom Prokopenko, Juri Rubtsow, Nikolai Statkewitsch und Evgeni Waskowitsch kamen unmittelbar frei. Mit Rufen wie “Held! Held!” und großer Medienaufmerksamkeit wurde noch in der Nacht der Freilassung insbesondere der seit 2010 inhaftierte frühere Präsidentschaftskandidat Nikolai Statkewitsch von Dutzenden Anhängern in Minsk empfangen. Speziell für die Freilassung des prominenten Sozialdemokraten hatten sich Unterstützer in Belarus wie international seit Jahren stark gemacht.

Dass diese Freilassungen überhaupt und so plötzlich erfolgten, überraschte die gesamte Gemeinschaft der Belarusbeobachter und auch die Menschen im Land. Zwar pfiffen es die Spatzen seit Wochen von den Dächern, dass Lukaschenko in Gesprächen Verhandlungsbereitschaft zeigte und auch in einem jüngsten Medieninterview schloss er die Freilassung nicht aus. Eine entsprechende Erwartungshaltung hatte zuletzt auch die Bundeskanzlerin am 21. Mai 2015 in einer Regierungserklärung verdeutlicht, als sie die Freilassung der Gefangenen als Voraussetzung für jedwede Verbesserung der Beziehungen benannte. Welcher konkrete Funken aber führte nun dazu, dass Minsk gerade jetzt den internationalen Forderungen auch tatsächlich folgte, die ja immerhin schon seit 2010 bestanden?

Ziel der Diversifizierung

In Ermangelung einer klaren Stellungnahme der weißrussischen Führung zu den Gründen der Freilassung muss zu den Ursachen spekuliert werden und das Puzzle anderweitig zusammengesetzt werden. Hinsichtlich der generellen Rahmenbedingungen ist hierzu zunächst auf eine gegenwärtig massive Wirtschaftskrise in Belarus und eine seit der Krim-Annexion durch Russland auch in Minsk wahrgenommene sicherheitspolitische Bedrohungslage zu verweisen. Auch bei Lukaschenko persönlich scheint das völkerrechtswidrige Handeln Russlands zu einer neuen Lageeinschätzung zu führen. So sehr Lukaschenko in politischen Fragen und ganz Belarus in wirtschaftlicher Hinsicht nach wie vor auf Russland angewiesen sind, so erkennt die Führung in Minsk in diesem Lichte zunehmend die alternativlose Notwendigkeit einer Öffnung auch nach Westen: Zu ungewiss ist die wirtschaftliche Ausrichtung auf das krisengeschüttelte Moskau und zu unklar die Absichten, die Moskau sicherheitspolitisch auch gegenüber Minsk hegt. Dass hier keine vollständige Abnabelung von Russland erfolgen kann, liegt nicht nur an nach wie vor stark ausgeprägten pro-russischen Einstellungen in der Mehrheit der Führungspersonen in Minsk. Vor allem kann nicht auf Subventionen verzichtet werden, die Russland in Form von verbilligten Energieträgern und Krediten zu Vorzugskonditionen im Umfang von geschätzten 7,7 Milliarden US-Dollar jährlich an Belarus gibt. Der Handel mit Russland beläuft sich zudem auf rund 40 Prozent der Ausfuhrerlöse sowie rund die Hälfte des weißrussischen Warenumsatzes. Wenigstens eine kleine Diversifizierung war dennoch seit Monaten die große Devise der tonangebenden Präsidialverwaltung. Sie äußerte sich in der Suche nach neuen Märkten, einer engeren Kooperation mit China und verstärkten Geschäften unter anderem mit der Ukraine und Moldau. Der naheliegende und besonders attraktive Markt der EU blieb Minsk verwehrt: Schließlich hatten die EU-Mitgliedsstaaten nach der blutigen Niederschlagung der Proteste nach den Präsidentenwahlen 2010 eines ihrer umfassendsten Sanktionsregime installiert und hiermit die Freilassung der politischen Gefangenen gefordert. Auf dieser Liste stehen auch gegenwärtig noch rund 200 weißrussische Beamte und Unternehmer sowie rund 20 Firmen.

Der genaue Zeitpunkt ist aufschlussreich

Dennoch ergibt die wirtschaftlich und sicherheitspolitisch angezeigte Öffnung Minsks in Richtung Westen noch keine klare Begründung dafür, weshalb die Freilassung nun ausgerechnet in der Nacht zum 23. August erfolgte. Zieht man jedoch in Betracht, dass am 21. August die Vorlagefrist von Unterstützerunterschriften für Bewerber zur geplanten Präsidentenwahl am 11. Oktober endete, zeigt sich das stimmige Gesamtbild, dass Lukaschenko mit der Freilassung offenkundig bis nach Ablauf der Nominierungsfrist der Präsidentschaftskandidaten gewartet hat. Zwei Gründe scheinen hierfür ausschlaggebend: Zum einen war zu diesem Zeitpunkt erstmals mit Gewissheit zu bilanzieren, dass die weißrussische Opposition in der Wahl allenfalls mit einer verbliebenen Kandidatin – der 38-jährigen Tatiana Korotkewitsch, einer pragmatischen und von mehreren Parteien getragenen und erstmalig antretenden Politikerin aus dem demokratischen Lager – vertreten sein wird.

Alle anderen zur demokratischen Opposition zu zählenden Bewerber waren zuvor ausgeschieden oder hatten ihre Aufgabe erklärt. Lukaschenko – der sich im Innern weiterhin keine Sorge um seine Wiederwahl machen muss – musste diese Entwicklung vor allem außenpolitisch werten. Durch die geringe Anzahl von Oppositionsbewerbern hätte das liberalere Ansehen Minsks leiden und die vorsichtige Westöffnung Schaden nehmen können. Einzig der Hebel der Freilassung der politischen Gefangenen blieb so noch als publikumswirksame Maßnahme zur Erweiterung der außenpolitischen Handlungsmöglichkeiten.

Dieser Hebel zur Erlangung außenpolitischer und wirtschaftlicher Vorteile durch den Umgang mit politisch Andersdenkenden – er erinnert durchaus an den Umgang mit politischen Gefangenen in der DDR – konnte zum anderen nicht zu einem beliebigen Zeitpunkt betätigt werden. Lukaschenko selbst muss bei jeder Beziehungsverbesserung zum Westen direkte Gegenmaßnahmen auch gegen sich selbst aus Russland fürchten. Nicht zum ersten Mal könnte Moskau im Falle dort wahrgenommener Untreue Lukaschenkos eine Medienkampagne gegen ihn anzetteln oder Lukaschenkos Gegenkandidaten unterstützen. Dieser möglichen russischen Einflussnahme auf die anstehenden Präsidentenwahlen hat Lukaschenko mit der Wahl des Zeitpunktes seines Signales an den Westen nach dem Vorwahlkampf nun viel Spielraum entzogen, da Moskau nun keinen aussichtsreichen Gegenkandidaten mehr unterstützen kann.

Wohl auch um entsprechenden Tendenzen vorzubeugen, bekundete Lukaschenko noch am Tag vor der Freilassung gegenüber Gasprom-Chef Alexej Miller in Minsk: „Belarus … ist kein fremdes Land und kein fremder Boden für euch gemeint war das russische Staatsunternehmen Gasprom, W.S.“, “Russland sei unser Alles, Russland sei unser gemeinsames Vaterland”, sagte Lukaschenko und bat Alexej Miller an die russische Führung weiterzuleiten, dass sie keine Zweifel haben sollte “an unserer Ehrlichkeit, Prinzipientreue und Zuverlässigkeit”.

Der vorsichtige Schritt in Richtung Westen in Form der Freilassung der Gefangenen war Lukaschenko dabei insgesamt offenkundig sogar so vorrangig, dass er seine früheren Positionen korrigierte. Sprach er zuvor davon, dass es in Weißrussland keine politischen Gefangenen gäbe, belief sich die Freilassung doch nun nur auf diejenigen sechs Personen, deren Gemeinsamkeit in ihrer oppositionellen politischen Ausrichtung liegt. Die Existenz politischer Gefangener wurde damit erstmals indirekt zugegeben.

Es ist keine Demokratie

Lukaschenko selbst wird durch die Freilassung allein weder zum Demokraten noch unmittelbar zum Partner für den Westen. Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte im Mai deutlich klargestellt, dass auch die Umstände der anstehenden Präsidentenwahl eine wesentliche Voraussetzung sind. Gerade hieran wird sich Lukaschenko nun in den nächsten Wochen messen lassen müssen – einerseits im Umgang mit der einzig verbliebenen oppositionellen Kandidatin Tatiana Korotkewitsch. Andererseits darf nicht vergessen werden, dass gegen alle demokratischen Parteien umfassende Arbeitsbehinderungen bestehen. Erst am 18. August 2015 wurde der Partei "Belarussische Christliche Demokratie" die Registrierung verweigert – es war der fünfte erfolglose Versuch der sich an der CDU Deutschlands orientierenden Vereinigung. Mindestens zwei von erst am 11. August in Minsk verhafteten Personen könnten zudem zu neuen politischen Gefangenen avancieren. Weiterhin bestehen kaum Zugänge politischer Parteien in die Staatsmedien, nur geringe Finanzierungsmöglichkeiten und eine strikte Kontrolle der politischen Opposition. Sollte Lukaschenko nun nach der Freilassung der politischen Gefangenen tatsächlich die Tür in Richtung Westen weiter öffnen wollen, wird das freie Europa ihn sicherlich auch hieran erinnern.

Offen ist, wie die belarussische Opposition auf diese nach der Freilassung der Gefangenen völlig neue Lage reagiert. Sie hatte das Thema der politischen Gefangenen im Vorwahlkampf immer stärker herausgestellt, Sachthemen traten in den Hintergrund. Langjährige Oppositionsgrößen wie Anatol Lebedko von der Vereinigten Bürgerpartei wie auch Siarhej Kaljakin von der Partei “Gerechte Welt” sind in dieser Konstellation überraschend daran gescheitert, die für eine Kandidatur jeweils erforderlichen 100.000 Unterschriften zu sammeln. Zu spät hatten sie ihren Wahlkampf geplant und zu lange hat sich die Opposition insgesamt auf interne Streitigkeiten konzentriert. Die Partei “Belarussische Christliche Demokratie” war erst gar nicht angetreten. Wie diese Schwergewichte in der Opposition nun mit dem Fakt umgehen, dass eines ihrer Hauptthemen abhandengekommen ist und die Newcomerin Tatiana Korotkewitsch die Opposition als einzige Kandidatin vertritt, ist noch nicht auszumachen. Diese zu erwartende Diskussion über die weitere Gestaltung des Wahlkampfes bis zum 11. Oktober dürfte im Innern der Opposition Wellen schlagen. Bereits jetzt haben Protagonisten eines Boykotts der Wahlen Oberwasser. In diesem Sinne könnten unter anderem auch die ausgeschiedenen Präsidentschaftsbewerber aus dem Oppositionslager sowie der nun freigelassene Nikolai Statkewitsch Druck auf Tatiana Korotkewitsch aufbauen. Entsprechende Rufe der Rücknahme ihrer Kandidatur waren bereits auszumachen.

Obschon ein solcher Boykott der Präsidentenwahlen im Oktober der inneren Oppositionslogik und der dortigen Machtverhältnisse folgen mag: Der weißrussischen Bevölkerung würde ein Boykott einmal mehr zeigen, dass es aktuell noch zu wenig politische Alternativen zu Lukaschenko gibt – selbst wenn man der Argumentation folgt, dass es in Belarus aufgrund der nichtdemokratischen Rahmenbedingungen gar keine echten Wahlen gibt.

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