Nachdem der Präsidentschaftskandidat des Oppositionsbündnisses am 14. Mai in einer Grundschule in Ankara seine Stimme abgegeben hatte, sagte Kemal Kılıçdaroğlu gegenüber Pressevertretern: „Wir alle haben die Demokratie vermisst. (…) Jetzt bricht der Frühling an.“ Dass der Frühling anbreche, war zentrale Wahllosung der Opposition. Wohl kaum beabsichtigt, knüpfte der Slogan an die Bildsprache des Arabischen Frühlings an. Damit korrespondierte die vor allem in westlichen Medien verbreitete Darstellung, die Wahl entscheide zwischen einer demokratischen oder autokratischen Zukunft der Türkei.
Zumindest das Wetter war frühlingshaft. Lange Schlangen vor den Wahllokalen deuteten darauf hin, was sich später bestätigen sollte: Die Wahlbeteiligung lag mit 88,9% überdurchschnittlich hoch. Nachdem die Wahllokale um 17 Uhr geschlossen hatten, begann die Auszählung. Auch wenn es im Verlauf des Wahlabends zu gegenseitigen Anschuldigungen kam, stellte der deutsche Wahlbeobachter Frank Schwabe später keine Verstöße gegen die freie Wahlausübung fest.
Kein Kandidat über 50%
In den späten Abendstunden des Wahltages begann sich dann abzuzeichnen, was am Folgetag offiziell verkündet wurde: Bei der türkischen Präsidentschaftswahl geht es am 28. Mai die zweite Runde. Weder Amtsinhaber Erdoğan noch Herausforderer Kılıçdaroğlu erreichten die erforderliche Mehrheit von über 50% um eine Entscheidung um ersten Wahlgang herbeizuführen. Auch wenn Präsident Erdoğan mit 49,4% nur knapp unterhalb der nötigen Stimmen liegt. Kılıçdaroğlu kommt nur auf 44,9% der Stimmen.
Die Stichwahl kam auch deshalb überraschend, weil der Präsidentschaftskandidat der Heimatpartei, Muharrem İnce, drei Tage vor der Wahl aufgrund angeblich promiskuitiver Filmaufnahmen freiwillig aus dem Rennen geschieden war. Laut etlichen Beobachtern hatte dies die Wahrscheinlichkeit einer Entscheidung im ersten Wahlgang stark erhöht.
Doch der nationalistische Außenseiter Sinan Oğan war überraschenderweise in der Lage, immerhin 5,2% auf sich vereinen, sodass kein Spitzenkandidaten der zwei großen Parteien über die Hälfte der Stimmen erhielt. Eine Stichwahl im 100. Jahr der Republik ist ein Novum für die Türkei.
Mehrheit für die Volksallianz
Parallel zu den Präsidentschaftswahlen fanden Parlamentswahlen statt. Auch hier trugen die aktuellen Regierungsparteien, die sich zur Volksallianz zusammengeschlossen hatten, die Mehrheit davon. Mit 49,47% erhalten AK Partei, MHP, HüdaPar und die Linken Demokraten voraussichtlich 321 der 600 Sitze in der Großen Türkischen Nationalversammlung. Das Oppositionsbündnis der Nationalallianz hingegen kam nur auf 35,02% und insgesamt 213 Sitze. Die Grüne Linkspartei, auf deren Liste auch die pro-kurdische HDP angetreten war, kommt auf 8,81% und 61 Sitze.
Auffallend war, dass beinahe alle Umfrageinstitute mit ihren Prognosen vorab falsch lagen. Sie hatten sowohl in der Präsidentschafts- wie auch in den Parlamentswahlen über Wochen eine die Opposition bevorteilende Tendenz gezeigt.
Enttäuschung bei der Nationalallianz
Nach dem optimistischen Rausch der Opposition im Vorfeld der Wahlen war die Ernüchterung über die Resultate dementsprechend groß. Mittlerweile provoziert das deutlich schlechter als erwartete Ergebnis frustrierte Rückfragen: War der als türkischer Gandhi apostrophierte Kılıçdaroğlu wirklich der richtige Kandidat? Für viele stehen zudem die Stimmen der kleinen Parteien in keinem Verhältnis zu den 35 Sitzen, die DEVA, Gelecek, Saadet und die Demokratische Partei erhalten. Zumal die ideologische Nähe von DEVA und Gelecek zur AK Partei die Sorge schürt, beide Parteien machen bald wieder gemeinsame Sache. Dadurch steht zugleich der innovative Ansatz der Nationalallianz zur Disposition: Eine Koalition heterogener Gruppen und Parteien baut Brücken über ideologische Gräben hinweg, um so politische Handlungsmacht zu erlangen. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, inwieweit die Opposition bis zum 28. Mai in der Lage sein wird, ihre Anhänger erneut zu motivieren und über die bisherige Wählerschaft hinaus Stimmen zu mobilisieren.
Ebenso hat die national und international kritisierte Verzögerung bei der Erdbebenreaktion des türkischen Staates, seiner Institutionen und Regierung zu keiner nennenswerter Wählerwandung geführt. Zumindest implizit war die Wahl somit auch eine Entscheidung darüber, wem zugetraut wird, in den elf betroffenen Provinzen die Herausforderungen zu bewältigen. Auch jenseits der Erdbebenregion ist es der Opposition nicht gelungen, mit Wirtschaftskompetenz zu punkten. Angesichts der ökonomischen Situation für viele internationale Beobachter schwer verständlich.
Zuversicht bei der AK Partei
Dennoch ist das Ergebnis nicht mit einem Sieg für die AK Partei und den Amtsinhaber zu verwechseln. Die oppositionsnahe Cumhurriyet ließ sich sogar zu der Titelseite verleitet: „Erdoğan hat verloren“. Diese Interpretation der Wahlergebnisse hat zumindest zwei Argument auf ihrer Seite: Zum einen hat die AK Partei wie bereits 2018 Sitze im Parlament verloren und hat das schlechteste Ergebnis der AK Partei seit 2002 eingefahren. Zum anderen konnte der Präsident erstmalig in eine zweite Runde gezwungen werden. Nichtsdestotrotz geht der Erdoğan in die Stichwahl als stärkster Kandidat, der zudem die Mehrheit des Parlaments auf seiner Seite hat.
Unabhängig davon, ob und wie Erdoğan die restlichen „Tage der Exekutive bis zur Stichwahl nutzt, um wie im Wahlkampf der türkischen Bevölkerung zusätzliche Angebote anzutragen (bisher gab es Gehaltserhöhungen bei Beamten, Pensionierung, Preisrabatte bei Energie): die mit einer Wiederwahl verbundene politische Stabilität wird in der Türkei vielfach als Wert an sich betrachtet. Nicht zuletzt um die wirtschaftlichen Probleme in den Griff zu bekommen, ist politische Handlungsfähigkeit Voraussetzung. In einem Parlament, in dem Erdoğans Bündnis die Mehrheit hat, aber Kılıçdaroğlu Präsident ist, droht hingegen Blockade. Solche Überlegungen beeinflussen die Wahlentscheidung vieler Türken nicht zu knapp.
Sieg des säkularen Nationalismus
Anders als im Vorfeld häufig angenommen, kommt somit nicht der pro-kurdischen HDP, sondern dem säkulare Nationalist Sinan Oğan eine mitentscheidende Rolle zu. Welcher Kandidat kann Oğans Wählergruppe für sich gewinnen? Derzeit werden Oğans flüchtlingsfeindliche Positionen medial in den Vordergrund gerückt. Trotz rhetorischer Kompromisslosigkeit bezüglich der PKK vertritt Oğan zudem die Ansicht, Kandidat derjenigen Kurden zu sein, die sich weder von HDP noch HüdaPar repräsentiert sehen.
Insgesamt sind Oğans Wähler jedoch keine homogene Gruppe. Einige seiner Anhänger werden auf eine Empfehlung Oğans warten. Ein Teil wird für Kılıçdaroğlu stimmen, weil sie gegen Erdoğan sind. Allem Anschein nach um diese Gruppe direkt anzusprechen, veröffentlichte Kılıçdaroğlu am Mittwoch ein Video, in dem er die Türkei beschwor, die Republik nicht der Geisteshaltung zu überlassen, die angeblich über 10 Millionen irreguläre Flüchtlinge im Land dulde. Ob eine verschärfte Migrationsrhetorik reicht, um den CHP-Politiker über die Schwelle von 50% der Stimmen zu heben, bleibt abzuwarten. Denn nicht wenige derjenigen, die in der ersten Runde für Oğan gestimmt haben, werden sich letztlich durch die Erdoğan zugesprochene Führungsqualität überzeugen lassen, den jetzigen Präsident für eine letzte Amtszeit zu bestätigen. Eine weitere Gruppe wird voraussichtlich gar nicht wählen gehen.
So kann der säkulare Nationalismus als geheimer Gewinner der türkischen Wahl bezeichnet werden. Denn in jedem Bündnis war eine nationalistische Fraktion vertreten. Die MHP in der Volksallianz liegt mit leicht über 10% unter dem letzten Ergebnis, aber über den Erwartungen. Die zweitgrößte Oppositionspartei in der Nationalallianz, die IYI Partei, kommt auf 9,7% und liegt damit ebenfalls unterhalb des eigenen Anspruchs aber oberhalb der letzten Prognosen. Sinan Oğan wird zudem vom kurzfristigen Rücktritt İnces profitiert haben. Dennoch ist der säkulare Nationalismus eine politische Kraft, der sich auf der politischen Landkarte der Türkei damit einen festen Platz gesichert hat. Ob und wie der säkulare Nationalismus die Nachfolge des politischen Islams antritt, wird die Zukunft zeigen.
Dieses Lied endet hier nicht
Am 26. März 1999 musste der damalige Bürgermeister Istanbuls eine viermonatige Haftstrafe antreten. Er war wegen Aufruf zum religiösen Hass verurteilt worden, nachdem er öffentlich ein islamistisches Gedicht vorgetragen hatte. Sein Name: Recep Tayyip Erdoğan.
Am selben Tag wurde ein Album mit dem Titel „Dieses Lied endet hier nicht“ veröffentlicht. Über eine Millionen verkaufte Tonträger sollten es zum meistverkauften Album des Jahres 1999 machen. Name des Künstlers: Recep Tayyip Erdoğan.
Dieser Tradition gewissermaßen folgend, war das erste, was der amtierende Präsident am Wahlabend tat, als er gemeinsam mit seiner Frau auf den Balkon der AK Parteizentrale in Ankara trat: singen. Erst dann richtete Erdoğan Worte des Dankes an die 27 Millionen Türken und Türkinnen, die ihn gewählt hatten. Zusätzlich versicherte er, den Willen des türkischen Volkes zu akzeptieren – an diesem Tag und in Zukunft.
So werden seit über zwanzig Jahren in der Türkei die Melodien Erdoğans gespielt. Noch ist die Türkei seiner mehrheitlich nicht müde geworden. Noch endet sein Lied auch dieses Mal nicht. Das bleibt auch vorerst so – zumindest bis zum 28. Mai.
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