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Länderberichte

Unveränderte Gegensätze in Venezuela zum Jahreswechsel

von Michael Lingenthal
Nichts kennzeichnet den Gegensatz zwischen Opposition und Oficialismo besser, als die Tatsache, dass die Regierungsseite der letzten Gruppensitzung am OAS-Verhandlungstisch fernblieb und die Kleindelegation der „Coordinadora Democrática“ vergeblich warten ließ. Im kleinen Kreis sollten beide Seiten die Vorschläge von OAS-Generalsekretär César Gaviria auf Realisierbarkeit überprüfen. Wieder einmal ist eine politische Lösung des Konfliktes nicht in Sicht. „Nur wenn beide Seiten tatsächlich den Willen zu einer Übereinkunft haben, ist eine Lösung möglich, ohne tatsächlichen Willen aber, nichts“ stellte der OAS-Generalsekretär vor seinem Abflug in die Verhandlungspause zum Jahreswechsel fest.

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Präsident Chávez und Vizepräsident Rangel haben unter der schon üblichen Beleidigung der Millionen friedlich demonstrierender Venezolaner als Helfer von „Putschisten“ und „Terroristen“ ihre starre Haltung im Konflikt unterstrichen. Weder Rücktritt noch vorzeitige Neuwahlen und jede rechtlich möglichen Schritte gegen das von der Opposition mit fast 2 Millionen Unterschriften eingebrachte Konsultativreferendum. Die „Coordinadora“ wird aufgefordert, sich von ihren extremen und zum Putsch bereiten Flügeln zu trennen.

Als Kronzeuge für die Putschbereitschaft von Teilen der Opposition muß der COPEI-Vorsitzende herhalten (siehe frühere Berichte). Natürlich hat man bereits die ausländischen Kräfte ausgemacht, die hinter den Putschvorbereitungen stehen und Venezuela sein „Herzstück der Wirtschaft“, den Ölsektor, entreißen wollen. CIA, USA und die Ölmultis sind nach „chilenischem Modell im Kampf gegen Allende“ die Drahtzieher im Hintergrund und die „Verräter des Vaterlandes“ ( gemeint sind 36.000 von 40.000 Ölangestellten sowie die Opposition und die privaten Medien generell ) machen mit den Feinden des Landes gemeinsame Sache.

Pedro Ortega, Mitglied des „Comando Político de la Revolución“ (Koordinierungsebene der Parteien des Revolutionsbündnisses), jedenfalls sieht das gleiche „CIA-Drehbuch“ wie schon früher in Lateinamerika. Und die Menschenmassen sind willige Mißbrauchte, die gegen die Interessen und die Souveränität Venezuelas stehen.

Die Opposition hält nicht zurück. Sie verschärft ihren Kurs mit der Ankündigung der „Steuerverweigerung“ am Jahresbeginn. Für sie ist Präsident Chávez „ein trauriger Unfall der Geschichte dieser Nation“. Er setzt sich in unmöglichen Versuch der Realisierung seiner „Bolivarianischen Revolution“ rücksichtslos über Verfassung und demokratische Spielregeln hinweg und versucht ein „Castro-Kommunistisches System“ zu installieren.

Chávez wird direkt für die Toten des 11. April und des 6. Dezember verantwortlich gemacht. Er hat den Streitkräften ihre Würde und Rechtsstaatlichkeit genommen und sie mit Hilfe einiger Vasallen zu einer Prätorianergarde umfunktioniert. Alle seine Wahlversprechen hat er gebrochen, keines der grundlegenden Probleme des Landes in seiner vierjährigen Regierungszeit gelöst. Vielmehr sind Korruption, Armut und Kriminalität angewachsen und schwindelerregende Summen aus öffentlichen Investitionsfonds (mehr als 2,6 Mrd. $) verschwunden. Die Opposition beharrt daher auf ihrer Forderung nach Rücktritt und Neuwahlen und will den „Zivilen Ausstand“ bis zum Erfolg fortführen und verschärfen. Sie droht mit einem „Marsch auf Miraflores“ (Amtssitz des Präsidenten) und einer symbolischen Einnahme von Caracas.

Bei aller Schärfe der Auseinandersetzungen gibt es Zwischentöne. Parlamentsvizepräsident Rafael Simón Jiménez, Koalitionspartner von Chávez, fordert, dass die Opposition im neuen Parlamentspräsidium vertreten sein soll. Teile der Opposition sind bereit, den Streik zu beenden, wenn zuverlässig und international überwacht und einklagbar ein Datum für baldige Neuwahlen feststeht. In diesem Fall könnte Chávez sogar erneut kandidieren. Abgeordnete des Oficialismo denken über eine Verfassungsreform oder gar eine neue Verfassungsgebende Versammlung nach und kommen damit der Oppositionsforderung nach einer „kleinen Verfassungsreform“ (Verkürzung der Amtszeit des Präsidenten, um sogleich zu Neuwahlen zu kommen, Einführung der Stichwahl) entgegen.

Die große Frage ist allerdings, ob diese Einzelstimmen, besonders aus dem Regierungslager, tatsächlich Signale zu einer politischen Lösung unter OAS-Mandat bedeuten oder nur „Nebelkerzen“ sind.

Festnahme von General Martínez Hinweis auf weitere Entwicklung

Divisionsgeneral Carlos Alfonso Martínez, im April Inspekteur der Guardia Nacional und damit deren zweithöchster Rang, gehört zu den Generälen, die auf der „Plaza Francia“ seit dem 22. Oktober den „verfassungsgemäßen Ungehorsam“ erklärt haben. Am 11. April war er derjenige, der zuerst öffentlich, eindringlich und wohl begründet, Präsident Chávez den Gehorsam aufkündigte und erklärte, dass die „Guardia Nacional“ (Berufssoldaten in den Streitkräften, für Sicherheit und Ordnung zuständig, in vielen Funktionen dem BGS vergleichbar) nicht zur Unterdrückung der Bevölkerung eingesetzt werden darf.

Am 30. Dezember wurde der General von einem Kommandounternehmen der politischen Geheimpolizei (DISIP) festgenommen. Ein erster Versuch der Festnahme scheiterte am Widerstand der Demonstranten und Bürger, die auf einem Platz nahe des Hauptquartiers der Guardia Nacional eine Ansprache von General Martínez hörten. Die Festnahme erfolgte auf dem Rückweg zur „sicheren“ Plaza Francia. General Martínez ist der dienstälteste General der Guardia Nacional. Er gehört (noch) nicht zu den Offizieren, die wegen ihrer Beteiligung in die Gehorsamsverweigerungen am 11. April und 22. Oktober bislang in den Ruhestand versetzt wurden. Ohne Kommando ist er bislang aktiver Soldat.

Bei der Verhaftung verletzte der Staat so viele Vorschriften und Rechtsnormen, dass am 31. Dezember ein Richter verfügte, General Martínez aus seinem Hausarrest im Gelände des Verteidigungsministeriums (zahlreiche Soldaten haben dort ihre Privatwohnungen) auf „freien Fuß“ zu setzen. Ob diese Verfügung umgesetzt wird und wie sich das Schicksal des Generals weiter entwickelt, ist ungewiß. Es wäre schon verwunderlich, wenn er aus dem Gelände des Verteidigungsministeriums auf den „Platz des Zivilen Ungehorsams“ (Plaza Francia) zurückkehren könnte, um dort weiterhin in Uniform Stellung gegen den Präsidenten und Oberbefehlshaber der Streitkräfte zu nehmen.

Im Verlauf der Festnahme bewies sich wieder, wie aufgeheizt das politische Klima Venezuelas ist. Vier Verwundete und einigen Sachschaden kosteten die Auseinandersetzungen vor dem DISIP-Hauptquartier, wohin General Martínez zunächst gebracht wurde. Seine Anwälte, unterstützt von wenigen Anhängern der Opposition, forderten vor den geschlossenen DISIP-Toren Auskunft über ihren Mandanten. Nachdem die DISIP Tränengas einsetzte, begannen tätliche Angriffe von Anhängern der Regierung, die ebenso von Teilen der Oppositionsvertreter erwidert wurden. Mit einem Steinhagel versuchten die Chávez-Anhänger die Oppositionellen und die Anwälte zu vertreiben.

Ziel der Aggression waren ebenfalls die Medien und ihre Einrichtungen. Im Verlauf der Gewalt wurden ein DISIP-Angehöriger leicht und ein ziviler Beamter der Policia Metropolitana schwer verletzt. Nachdem die DISIP sich auf ihren Gelände einschloß und nichts zur Trennung der Parteien unternahm, beruhigte sich die Lage erst nach Eintreffen der „Policia Metropolitana“. Die für den Distrikt zuständige „PoliCaracas“ (Polizei des Distrikts „Libertador“ unter Bezirksbürgermeister Fredy Bernal, einem der schärfsten Verfechter der „Bolivarianischen Revolution“), kahm mit nur einer Motorradstreife erst dann zum Einsatzort, als die Policia Metropolitana die Lage bereits beruhigt hatte.

Die Demonstrationslage in den Regionen blieb unverändert, hohe Beteiligung und Vorgehen der Ordnungskräfte vor allem gegen die Opposition. In Maracaibo, Hauptstadt der „Öl-Provinz“ Zulia, allerdings schritten die Sicherheitskräfte auch gegen Anhänger der Regierung Chávez ein, als diese vor dem regionalen PDVSA-Sitz ihrem Unmut Luft machten und eine „harte Hand“ gegen die Streikenden forderten.

Die zivilen Proteste der Bevölkerung erreichen bereits die Flugzeuge. Regierungsvertreter und Militärs müssen sich bei Flügen die Nationalhymne, Oppositionsschlachtrufe, Cacerolazos anhören und die Nationalflagge zeigen lassen, Protestformen, die auch in einigen Restaurants schon üblich sind.

Schein und Wirklichkeit

Vizepräsident Rangel bleibt der Prophet der „völligen Normalität“ im Land, „in zwei bis drei Tagen sei die Benzinversorgung stabil“ erklärt Rangel. Er unterstützt „als Bürger“ die Klage eines PDVSA-Angestellten gegen den Streik und solidarisiert sich mit den massiven Protesten der Chávez-Anhänger vor dem Obersten Gericht, wo Tische aufgestellt sind, um Unterschriften zur Klageunterstützung zu sammeln.

Das komplette Kontrastbild liefert die Opposition. Sie verweist nicht nur auf die kilometerlangen Schlangen vor den Tankstellen (auch der Autor wartete vergebens fünf Stunden auf eine Tankfüllung, weil inzwischen die Tankstelle „trocken“ war), sondern vor allem darauf, dass derzeit weniger als 10% der normalen Ölproduktion realisiert werden. Sie bereitet die Bevölkerung auf weitere Einschnitte, besonders beim Haushaltsgas (in Flaschen, Hauptkochquelle der Armutsviertel und des ländlichen Raums) vor, weil hier der Produktionsrückgang über 80% beträgt. Für eventuelle Stromausfälle wird vorsorglich die Regierung verantwortlich gemacht. Die Ölstreik-Leitung erklärt, dass vom Streik Gas und Treibstoff für die Stromversorgung ausgenommen seien. Engpässe können nur durch unqualifiziertes Personal und Fehlbedienung entstehen oder wenn Strommangel als Repressionsinstrument der Regierung eingesetzt wird.

Der Vorstandsvorsitzende der Ölholding PDVSA, Alí Rodriguez, gibt sich längst nicht so vollmundig wie Präsident und Vizepräsident. Er räumt gravierende Probleme im Ölsektor ein und will keine zeitliche Prognose bis der „Normalität“ mehr abgeben. Die Schuldzuteilung an die Streikenden bleibt nicht aus ebenso wie der erklärte Wille, mit ausländischen Kräften und Importen die Streikfront zu brechen.

Zu dem Benzinimporten hat der Volksmund eine kreative Sprachschöpfung gefunden, unabhängig von der Tatsache, das der noch amtierende Präsident von Brasilien Cardozo heißt und noch nicht Lula (erst ab 01.01.03) und damit Cardozo für die aktuellen Hilfslieferungen der brasilianischen Regierung Verantwortung trägt.

Benzin heißt in der Landessprache „gasolina“. Nach den brasilianischen Treibstofflieferungen formuliert der Oppositions-Volksmund „gasoLULA“.

Probleme der zukünftigen Entwicklung

Präsident Chávez beharrt auf seinen Positionen, verhärtet die Fronten und sucht in keinem Augenblick einen Konsens mit der Massenopposition. Es hat den Anschein, als ob er durch seine unbeugsame Haltung die moderaten Kräfte der Opposition in die Enge drängen und die Oppositionskräfte fördern will, die einen kompromißlosen Kurs steuern.

Der Präsident vertieft und beschleunigt seine „Bolivarianische Revolution“ und die Umgestaltung der Streitkräfte zu einer ihm treuen Truppe. Eine verbesserte Organisation seiner Revolutionskräfte soll die zurückgehende Zustimmung in der Bevölkerung ausgleichen. Er versucht mit allen Mitteln die Opposition zu dividieren bzw. bestehende Meinungsunterschiede zu verschärfen. Keinen Erfolg am Verhandlungstisch, dass scheint das unausgesprochene Ziel von Präsident Chávez zu sein. Statt Verhandlungen und Konsens Durchsetzung des eigenen Kurses auch mit Gewalt, das zeichnet sich immer mehr ab. Präsident Chávez hat dabei vorerst zwei Trümpfe in der Hand, den Ölbedarf im Vorfeld der Irak- und Koreakrise sowie gefüllte Kassen, weil die Öleinnahmen vor Beginn der nationalen Krise bereits sehr viel höher ausfielen, als selbst von der Regierung eingeschätzt.

Die Opposition hat sich mühsam zum Weg der Referenden und der Neuwahlen als politisches Ziel durchgerungen, der Souverän soll die Krise des Landes entscheiden, nicht die Gewalt. Aber je aussichtsloser eine Konsensbereitschaft seitens des Präsidenten ist, je eher gewinnen die Kräfte an Gewicht, die den Streikkurs verschärfen wollen.

Die Opposition steht vor einem internen Glaubwürdigkeitsproblem. Was soll sie noch versuchen, um Erfolge –also Rücktritt des Präsidenten oder Wahlen- zu verzeichnen? „Verliert sie ihr Gesicht“ am Verhandlungstisch, wer wird ihr dann auf dem Verhandlungskurs noch folgen? Die Opposition hat als Trumpfkarte die massive Unterstützung der Bevölkerung sowie die führenden intellektuellen und künstlerischen Köpfe und die Mehrheit der Massenmedien auf ihrer Seite.

Die Bevölkerung ist selbstbewußt und politisch wach geworden. Dies gilt für den Oppositionssektor, aber auch für die Kreise aus vornehmlich marginalen Schichten, denen Chávez politische Heimat bot. Die Politisierung im besten Sinne, im Grunde ein positiver Effekt der Regierung Chávez. Aber, ist die Bevölkerung noch zu steuern, wenn sich die Gemüter weiter erhitzen und wenn bei Konfrontationen Provokationen eintreten? Insbesondere dann, wenn die tätlichen Angriffe der Chávez-Anhänger weiter gezielt und mit aller Gewalt gegen die friedlichen Massenproteste, wie z.B. am 4. November, der Opposition geführt werden. Wie entwickelt sich Venezuela, wenn keine Verhandlungslösung Realität wird und extreme Kräfte beider Seiten losgelöst von jeder Führung selbständig agieren?

Die letzten Monate zeigen, dass der Konflikt eine Lösung mit zivilen Mitteln braucht. Putscherwartungen und Putschbefürchtungen wurden bislang (!) gleichermaßen enttäuscht. Das Militär will oder kann offensichtlich keine politische Rolle in dem Sinne übernehmen, dass das Militär eine Regierung stellt – auch wenn Teile des Militärs augenblicklich de fakto Chávez im Amt halten. Was manche als „Unfähigkeit zum Putsch“ des Militärs am 11. April und in den Monaten danach (und zuvor am 4. Februar 1992 durch Oberstleutnant Chávez selbst) beurteilen/verurteilen, eröffnet tatsächlich aber eben gerade die zivile Lösung der Staatskrise.

Für die zivile Lösung ist die OAS-Vermittlung von erheblichem Gewicht. Weiterer Faktor ist die Beibehaltung der „Protestpotenz“, um im In- und Ausland deutlich zu machen, wie sehr die Regierung Zustimmung und durch ihre Handlungsweise auch Legitimität verloren hat. Die Frage an die Opposition wird sein, wie sie die „Streikperspektive“ in eine „Demonstrationsstrategie“ zurückführt, wenn der Streik nicht weitergeführt werden kann und/oder Chávez im Amt bleibt und Neuwahlen weiter ablehnt.

Auch wenn Venezuela zu Recht betont, dass nur Venezuela selbst den Konflikt entscheiden kann, ist die internationale Hilfe zur Konfliktlösung wichtig. Hier ist vor allem die OAS gefordert, die zusätzlich zu den Verhandlungen noch andere Mittel einsetzen kann, z.B. eine Mission von Sonderbotschaftern oder eine Außenministerdelegation. Regierung und Opposition verfügen über zahlreiche Auslandskontakte und –kooperationen.

Diese Institutionen können und müssen ihr Engagement verstärken, um Verhandlungslösungen zu fördern, dazu internationale Erfahrungen und Grundsätze von Konfliktregelungen einbringen und vor allem beiden Seiten deutlich mac hen, was das nationale und internationale Szenarium ist, wenn Verhandlungen scheitern.

Venezuela geht in ein Neues Jahr mit ungewissem Ausgang seiner tiefsten Krise der neueren Zeit.

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