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Länderberichte

Versuche der Umerziehung

von Dr. Helmut Reifeld

Neue Rahmenrichtlinien für indische Schulen

Die neuen Rahmenrichtlinien, die das indische Erziehungsministerium Mitte November für sämtliche Grund- und weiterführenden Schulen verkündet hat, haben eine Welle von Protesten ausgelöst. In den Medien, in pädagogischen Forschungseinrichtungen und in den Oppositionsparteien werden sie als ein erneuter Versuch der hindunationalistischen Regierung bewertet, die "Hinduisierung" Indiens voranzutreiben.

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Indien ist ein multi-kulturelles und multi-religiöses Land. Zwar machen die Hindus seit der Teilung 1947 etwas mehr als 80% der Bevölkerung aus, aber der Hinduismus hat sich nie als die überall im Land dominierende und allein prägende Kultur des Subkontinents durchgesetzt. Die indische Verfassung garantiert, daß das Land nicht nur demokratisch und sozialistisch regiert wird, sondern vor allem auch "säkular".

Hierin lag ein Kernelement des Erziehungswesens seit der Unabhängigkeit und alle bisherigen Curricula haben dem Rechnung getragen. Insbesondere die zuletzt gültigen Rahmenrichtlinien von 1988 galten als sehr moderat. In ihnen wurde weder eine Kultur höher bewertet als andere, noch wurden andere Länder im Vergleich zu Indien abgewertet. Auch wurde dem kritischen Geschichtsunterricht stets ein besonderer Platz eingeräumt.

Das neue Curriculum des "National Council for Educational Research and Training" (NCERT) spricht demgegenüber eine andere Sprache. Mit chauvinistischer Emphase lobt es die Überlegenheit der indisch-hinduistischen Tradition und Kultur gegenüber anderen. Es brandmarkt das Bemühen des indischen Erziehungswesens um religiöse Neutralität als falsch verstandenen Säkularismus. Zu lange habe man versucht, Religionsunterricht ganz aus den Schulcurricula herauszuhalten und allenfalls eine allgemeine Religionskunde unterrichtet.

Demgegenüber fordert das neue Dokument die Einführung von Religionsunterricht für alle Altersstufen. Seine Kritiker befürchten jedoch, daß damit der Anspruch auf Neutralität preisgegeben wird und außer dem Hinduismus nur noch die Religionen angemessen zur Geltung kommen, die - wie der Buddhismus, der Jainismus oder der Sikhismus - ohnehin vom Hinduismus absorbiert werden.

Diese Befürchtung stützt sich vor allem auf die Tendenz des Dokuments, das kulturelle Erbe Indiens fast ausschließlich hinduistisch zu interpretieren, was Kritiker als "saffronisation drive" bezeichnen. Safrangelb ist die Farbe des religiösen Hinduismus, und "saffronisation" ist ein Begriff, der seit einigen Jahren immer häufiger in den Medien auftaucht. Er ist Teil der Kritik am politischen Hindunationalismus und beschreibt dessen Bemühungen, nicht nur Indiens Gegenwart, sondern auch die Vergangenheit des Landes safrangelb zu färben. Damit soll eine Homogenität erzeugt werden, die es in der Wirklichkeit nicht gibt und nie gegeben hat.

Dies wird in dem neuen Curriculum vor allem an dem ständig wiederholten idyllischen Bild des ländlichen Indien deutlich. Hier herrschen Selbstgenügsamkeit und Bescheidenheit. Es gibt keine Unterdrückung von Frauen, keine Gewalt von seiten der Großgrundbesitzer und das Kastensystem gewährt dem Ganzen Stabilität und Frieden.

Es ist deshalb nicht verwunderlich, wenn in dem neuen Dokument betont wird, daß die Bedeutung, die bisher der Geschichtswissenschaft eingeräumt worden sei, "substanziell reduziert" werden müsse. Die Wertschätzung für die Geschichtswissenschaft habe in der Vergangenheit lediglich dazu beigetragen, den Einfluß fremder Kulturen überzubetonen und die "indigenen" Elemente zu vernachlässigen. Zwar wurde die neuere Geschichte Indiens vor allem durch drei Jahrhunderte muslimischer Herrschaft und etwa zwei Jahrhunderte starken britischen Einfluß geprägt, doch sollen von jetzt an primär Gandhi und Tagore, Aurobindo und J. Krishnamurthy als "native thinkers" unterrichtet werden.

Außerdem sei in der Vergangenheit der eurozentrischen Perspektive zu viel Bedeutung beigemessen worden. Es sei "irrelevant", daß Europäer Amerika oder den Seeweg nach Indien entdeckt hätten. Statt dessen sei es die Aufgabe der Sozialwissenschaften, die heutige Bedeutung Indiens im Zuge der Globalisierung sowie das Leitmotiv des "being an Indian" stärker herauszustellen.

Die einzige Altertumswissenschaft, der Beachtung geschenkt wird, ist das Studium des Sanskrit, dem eine eigene Sektion in dem Dokument gewidmet ist. Sanskrit sei nicht nur die Sprache der indischen Feste, sondern auch derart klar und logisch strukturiert, daß es für die Benutzung von Computern vorteilhaft sei. In diesem Kontext kommen aber auch Yoga, vedische Mathematik, Astrologie und rituelle Praktiken ("yajnas") zur Geltung.

Das rituelle Bad im Ganges zu einem von Astrologen festgelegten Zeitpunkt kann demnach von Sünden befreien, und bestimmte okkulte Handlungen können für die Geburt eines Sohnes statt eines Mädchens den Ausschlag geben. Ob diese Lerninhalte das kritische Bewußtsein der künftigen Generation stärken, wird allerdings von vielen Indern bezweifelt (The Hindustan Times, 18.12.2000).

Um dem Anspruch an Wissenschaftlichkeit gerecht zu werden, operiert der Text mit drei Begriffen, die das relativ breite Spektrum unterschiedlicher Ansprüche zusammenhalten sollen. Neben dem bekannten Begriff eines "Intelligence Quotient" (IQ) rangieren gleichrangig der "Emotional Quotient" (EQ) und der "Spiritual Quotient" (SQ), als ob es sich um etablierte Konzepte handle. Diese Gleichsetzung führe letztlich, so Kritiker, zu einem System edukativer Apartheid.

Geht es nach den neuen Rahmenrichtlinien soll anstelle der kulturellen Vielfalt nur noch eine Kultur in Erscheinung treten, statt zahlreicher Sprachen jetzt Hindi dominieren und die säkularistischen Traditionen des Landes hinduistisch unterminiert werden. Im Sprachunterricht sollen Hindi und Sanskrit gegenüber Englisch und den zahlreichen Regionalsprachen des Landes aufgewertet werden. Kritikern erscheint diese Politik vor allem deshalb kontraproduktiv, weil sie lediglich den Trend verstärken wird, daß diejenigen, die es sich finanziell leisten können, in den privaten Schulsektor überwechseln.

Gleichzeitig mit den neuen Rahmenrichtlinien stellten die beiden Repräsentanten des NCERT, der Direktor J. S. Rajput und M. K. Kaw eine neue Zeitschrift vor, das "Journal of Value Education". Hierin findet sich in nuce die Philosophie hindunationalistischer Pädagogik. "EHV", ("Education in Human Values") lautet das neue Akronym, das die künftige Generation von allen Übeln der Gesellschaft befreien soll. Das neue Journal verlangt die Einführung eines hinduistisch geprägten Religionsunterrichts und warnt explizit vor den sogenannten Buchreligionen, die dem Land bisher angeblich den "größten Schaden" zugefügt haben. Die beiden damit gemeinten Religionen, der Islam und das Christentum, werden namentlich nicht genannt, aber es wird betont, daß das "gesamte Prozedere abgeschafft" werden müsse, welches in der Vergangenheit Konversionen ermöglicht habe.

Obwohl das Dokument beansprucht, aus den jahrelangen Erhebungen und Diskussionen im NCERT hervorgegangen zu sein, bestreiten dessen akademische Mitarbeiter, an diesem Dokument überhaupt mitgewirkt zu haben. Für sie kam die Publikation angeblich aus heiterem Himmel, obwohl bereits vor einem Jahre ein erster Entwurf kursierte. Auch dem führenden nationalen Beratungsgremium CABE ("Central Advisory Board of Education") ist dieses Dokument entgegen der üblichen Praxis zuvor nicht vorgelegt worden.

Offensichtlich handelt es sich vielmehr um eine politische Richtungsvorgabe von oben, die namentlich dem Kultusminister ("Human Resource Development Minister") Murli Manohar Joshi, zugeschrieben wird. Joshi, gegen den seit Jahren Untersuchungsverfahren wegen öffentlicher Hetze und Aufruf zur Gewalt anhängig sind, zählt innerhalb der regierenden hindunationalistischen BJP zu den exponierten Hardlinern (Frontline, 22.12.2000).

Das neue Dokument wird im allgemeinen nicht nur fachlich, sondern vor allem auch politisch kritisiert. Die zentrale Frage ist dabei, was für das kulturelle Erbe Indiens konstitutiv ist und wie es unterrichtet werden soll. In fast allen Medien ist von einem "saffron curriculum" die Rede, das den kulturellen Errungenschaften des unabhängigen Indien Hohn spricht. Die Diskussion hierüber beginnt jedoch gerade erst und wird sicherlich noch geraume Zeit die Gemüter beschäftigen.

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Peter Rimmele

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