„Christoph Stölzl gehört zu den historischen Figuren, mit deren Tod eine ganze Epoche ins Grab sinkt“, so schreibt der Literaturkritiker Gustav Seibt in seinem Nachruf auf den Kulturhistoriker, Publizisten und CDU-Politiker Christoph Stölzl in der Süddeutschen Zeitung, die sonst eher nicht durchgehend für Elogen auf Christliche Demokraten bekannt ist. „Sympathischer Magnet“ schreibt der Tagesspiegel und das Feuilleton der Welt, dem Christoph Stölzl selbst einmal vorgestanden hatte, tituliert ihn bewundernd als „Zeremonienmeister der deutschen Erinnerungskultur“. Auch die FAZ setzt dem früheren Berliner Kultur- und Wissenschaftssenator posthum mit der Überschrift „Helmut Kohls Geschichtspolitiker“ ein kleines Denkmal. Christoph Stölzl, der im Alter von 78 Jahren auf seinem Bauernhof in Evenhausen in seiner bayerischen Heimat überraschend gestorben ist, war in der Tat alles andere als eine gewöhnliche Figur im Berliner Politikbetrieb und in der deutschen Kulturszene. Er war ein Musterbeispiel für jene Intellektuellen, die nicht über den gesellschaftlichen und politischen Wassern schweben, sondern mit Streitlust, aber auch mit Streitkultur wichtige Debatten angeregt und allein schon aufgrund der Vielfalt ihrer Aufgaben unzählige Spuren hinterlassen haben. Die Konrad-Adenauer-Stiftung verliert mit Christoph Stölzl, der viele Jahre dem Kuratorium der Stiftung angehört hat, einen wertvollen Berater und wohlwollenden Begleiter, der sich für viele Veranstaltungen und Projekte einspannen ließ.
„Entdeckt“ hat ihn, wenn man so will, Helmut Kohl. Er war auf den brillanten und unkonventionellen Ausstellungsmacher, den Direktor des Münchner Stadtmuseums aufmerksam geworden, der dort durch herausragende und mutige Ausstellungen – man denke nur an „Das Oktoberfest – 175 Jahre bayerischer Nationalrausch“ und durch fundierte Beiträge zu kulturellen Debatten weit über die bayerische Landeshauptstadt hinaus bekannt geworden war. 1987 machte Helmut Kohl ihn zur Leitfigur eines „Lieblingsprojektes“, zum Generaldirektor des neu gegründeten Deutschen Historischen Museums in Berlin. Stölzl selbst hat die Zeit am DHM und die Pionierjahre beim Aufbau dieser wie er es nannte „Vergangenheitsmaschine“ zu den „Glücksjahren“ seines Lebens gezählt. Schnell erfasste er die Chance, die mit diesem Haus verbunden war und setzte die Ansprüche an das neue Projekt entsprechend hoch: Das DHM, so sagt er, „sollte ein echtes Museum, also ein Schatzhaus bedeutender authentischer Geschichtszeugnisse und Kunstwerke sein und nicht nur ein Gehäuse wechselnder didaktischer Installationen.“ Zugleich war ihm aber wichtig, dass das neue Haus frei ist von patriotischem Pathos und einer „nüchternen Aufklärung und Verständigung“ über die gemeinsame Vergangenheit von Deutschen und Europäern dient – ohne jede Form der Verdrängung von Vergangenheit. Dementsprechend deutlich hat er sich zu einer politischen Rolle von Museen bekannt: „Historische Museen dürfen keine nostalgischen Flohmärkte sei. Sie sind ein hochpolitischer Ort, wenn sie ihre Besucher mitnehmen ins Labor der historischen Wahrheitssuche.“
Mit dem Fall der Mauer nahm das Projekt noch einmal eine ganz besondere Bedeutung ein. Dass sich das vormalige DDR-Museum für Deutsche Geschichte dem DHM – wie Stölzl es formulierte – aus „eigenen Stücken“ anschloss, weil man das Konzept des DHM als „brauchbar“ akzeptiert habe, war sicher auch auf das kluge Agieren Stölzls zurückzuführen, der fortan im Berliner Zeughaus eine eindrucksvolle Ausstellung mit deutscher und europäischer Perspektive aufgebaut hat. Einer Verharmlosung des SED-Unrechtes und einer naiven „Ostalgie“ hat er sich immer wieder kraftvoll entgegengeworfen. Die PDS hat er als Nachfolgepartei der SED als „Irrweg in der neuen deutschen Geschichte“ bezeichnet.
Helmut Kohl, der eben nicht mit dem DHM, wie „Unkenrufe“ behaupteten, eine nationalistische „Kathedrale“ für seine geistig-moralische Wende bauen wollte, sondern seine erinnerungspolitischen Intentionen bei Christoph Stölzl in guten und vor allem kompetenten Händen sah, übertrug seinem Berater bald andere heikle Aufgaben: Als „Beauftragter der Bundesregierung für die Neugestaltung der Zentralen Gedenkstätte für die Opfer des Krieges und der Gewaltherrschaft“ hatte er wesentlichen Anteil daran, dass der Schinkel-Bau mit einer vergrößerten Version der eindrucksvollen „Pietà“ von Käthe Kollwitz bestückt wurde. Eine Entscheidung, die damals umstritten war, heute aber weithin anerkannt ist. Als Mitglied der „Findungskommission“ hatte er sich zudem in den Debatten um das Denkmal für die ermordeten Juden Europas als Fürsprecher für den später umgesetzten Entwurf von Peter Eisenmann ausgesprochen. In seinem eigenen Haus, im DHM, gelang ihm mit der Verpflichtung des Stararchitekten Leoh Min Pei für den Anbau des Zeughauses ein architektonischer Geniestreich. Mit dem Versuch, Christoph Stölzl zum Präsidenten der Stiftung Preußischer Kulturbesitz zu machen, den Helmut Kohl noch vor seiner Abwahl als Bundeskanzler lanciert hatte, scheiterte er am Widerstand der SPD-geführten Länder, der dann nach dem Regierungswechsel voll zur Geltung kam. Eine der wenigen Entscheidungen, die den Kulturmanager wirklich gekränkt haben.
Zum Ende des Jahres 1999 beendete Stölzl seine Arbeit am DHM und hinterließ ein international konkurrenzfähiges und geachtetes Haus. Sein anschließendes Intermezzo als Chef des Feuilletons der WELT sollte kurz bleiben, weil es Stölzl schon bald danach in die Politik zog, mit einer gehörigen Portion Idealismus. Später wird er schreiben: „Nicht die fachliche Kompetenz berechtigt zum Eintritt in die politische Arena, sondern die Gabe als Magnet der Sympathie zu wirken“.
Seine erste politische Kurzzeitbegeisterung hatte der Freigeist knappe zehn Jahre zuvor den Liberalen geschenkt, mit einem persönlichen Bekenntnis zur „Tradition des bürgerlichen Freisinns: Rebellisch, trotzig, insistierend darauf, alle Unfreiheit, alle Unmündigkeit in Frage zu stellen.“ Bei der FDP wurde er in der Zeit des Mauerfalls gar zwischen dem Juni 1989 und dem September 1990 stellvertretender Landesvorsitzender; eine bleibende Heimat fand er dort hingegen nicht. In einem Interview hat er später – längst bei der CDU angekommen - einmal beschrieben, warum das so ist: „Die Liberalen haben kein C im Namen. Wenn es nach mir geht, gewinnt die Programmatik der Union große Dynamik, wenn sie sich noch einmal neu mit dem Menschenbild des Christentums beschäftigt. Was das Gebot der Nächstenliebe heute bedeuten kann, was die radikale Formulierung der geistigen Autonomie des Menschen heute bedeuten kann, wie wir die Rolle des Menschen in der Schöpfung definieren – Stoff genug für einen unverwechselbaren Wertekanon.“
Als der Berliner Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen, der zu diesem Zeitpunkt einer „großen Koalition“ vorstand nach dem Rücktritt von Christa Thoben Christoph Stölzl im April 2000 überraschend zum Senator für Wissenschaft, Forschung und Kultur berief, war er zunächst parteilos, trat dann aber wenig später in die CDU ein. Bereits nach etwas mehr als einem Jahr, in dem er aber mit der Vereinbarung mit dem Bund über einen Hauptstadtkulturfonds und mit seinen Bühnenreformplänen durchaus bleibende Akzente setzten konnte, endete sein kurzes Regierungsintermezzo bereits wieder mit dem Scheitern der Regierungskoalition.
Bei der vorgezogenen Landtagswahl 2001 wurde er in das Abgeordnetenhaus gewählt. Obgleich parlamentarischer Neuling, wurde er aus dem Stand heraus, auch das war seinem Renommee und seiner Anerkennung über Parteigrenzen hinweg zu verdanken, zu einem der beiden Vizepräsidenten des Abgeordnetenhauses gewählt. Schnell avancierte Stölzl in der Berliner CDU, die zu dieser Zeit von inneren Streitigkeiten von den Kämpfen der „Bezirksfürsten“ und vor allem von den Nachwirkungen ihres Finanzskandals belastet war, zum Hoffnungsträger, der die Partei, so die WELT „raus aus der Schwermutsecke“ führen sollte. Er schien mit seinem Ideenreichtum und seiner Unabhängigkeit als ideale Führungsalternative und als Ermöglicher eines Neuanfangs. Folgerichtig wurde er am 25. Mai 2002 mit überwältigender Mehrheit als Nachfolger des zuvor zurückgetretenen Eberhard Diepgen zum neuen Berliner Parteivorsitzenden gewählt. Im November 2002 zog er zudem in den Bundesvorstand der CDU ein. Von der Süddeutschen Zeitung als „Amateur der Macht“ verhöhnt, war dem Quereinsteiger an der Spitze der Landespartei kein langes Glück und kein durchgreifender Erfolg beschieden. Zu übermächtig waren die Flügelkämpfe und die „Querschüsse“ des Fraktionsvorsitzenden Frank Steffel, den Christoph Stölzl gleichwohl niemals dämonisiert hat. Nach nur einem Jahr zieht sich Stölzl aus dem Landesvorsitz wieder zurück, bleibt aber als Vizepräsident des Abgeordnetenhauses auch in der politischen Arena Berlins weiterhin präsent. Den Vorwurf er sei unpolitisch gewesen kontert er mit dem Satz: „Wenn ‚unpolitisch‘ heißt, dass man sich zwar im Räderwerk von Parteipolitik auskennt, dennoch aber idealistische Sachpolitik für den besseren Weg hält – dann lasse ich mich gern ‚unpolitisch‘ nennen.“
Nicht selten führt das politische Scheitern auch dazu, dass der Gescheiterte auch in der öffentlichen Wahrnehmung in der Versenkung verschwindet. Der Rat von Christoph Stölzl blieb aber in gleicher Intensität gefragt, etwa bei der späteren überaus erfolgreichen Kulturstaatsministerin Monika Grütters, die in der „Ausnahmerscheinung“ Stölzl immer einen wichtigen Mentor für sich selbst gesehen hat: „Sein Geist, sein Lebenswissen, seine Weisheit, die waren wichtig.“
Aber auch über die Politik hinaus blieb die Umtriebigkeit und Sachkenntnis von Stölzl überaus gefragt, etwa als Kurator für die Bewerbung der Stadt Braunschweig zur Kulturhauptstadt Europas Geschäftsführer der Villa Griesebach, dann als Präsident der Musikhochschule Franz Liszt in Weimar, in unendlich vielen Gremien vom Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten bis zur Stiftung Denkmalschutz. Zuletzt fungierte Christoph Stölzl als Gründungsdirektor für das Exilmuseum Berlin, das ihm besonders am Herzen lag.
Dass er bis zuletzt so gefragt blieb und an einen wirklichen Ruhestand kaum zu denken war, das hat mit seiner außerordentlichen Persönlichkeit zu tun. Christoph Stölzl war er eine beeindruckende Verkörperung des Leitspruches des Jesuiten Acquaviva, „Fortiter in re, suaviter in modo“: Klar und kraftvoll in der Sache und sanft in der Form. So leidenschaftlich und im besten Sinne brennend er war, so sehr er vor Ideen gesprüht hat, so bleibt doch allen, die ihm begegnet sind, seine große Ausgeglichenheit und Unaufgeregtheit in Erinnerung: Ein pointierter, origineller Redner, ein charmanter Unterhalter, aber kein polternder Lautsprecher, kein Wutausbruch, keine Intrigen, niemals das, was man in seiner bayerischen Heimat „Hinterpfotzigkeit“ nennen würde und ein für den Kulturbetrieb bemerkenswert geringes Maß an persönlicher Eitelkeit. Diese eher seltenen Eigenschaften und die Fähigkeit die eigene Person in den Hintergrund zu stellen und sein geradezu unerschütterlicher Optimismus, haben ihn zu einem gefragten Konfliktlöser gemacht, der bis zuletzt in verfahrenen Situationen geholfen hat, „die Kohlen aus dem Feuer“ zu holen. Als das Jüdische Museum 2019 nach einer umstrittenen Jerusalem-Ausstellung in die Kritik und in schwere Fahrwasser geriet, trat er als Mediator auf und beschrieb seine eigene Funktion bezeichnend: „Das ist meine gelebte goldene Regel. Nicht: Hier ist unsere Mission, jetzt geht ihr gelehrter hinaus, sondern gelebter Diskurs. Ich entscheide aber nicht. Ich bin eine Art Parlamentär mit der weißen Fahne oder ein Punchingball, Gesprächstherapeut oder Mittler.“
Vielleicht hat Gustav Seibt – auch wenn Christoph Stölzl möglicherweise der kulturpessimistische Grundton dieser Behauptung missfallen hätte - mit der Befürchtung, dass mit diesem enzyklopädisch gebildeten Kulturmanager der Extraklasse eine Epoche mit ins Grab geht, doch recht - wenigstens insofern als Christoph Stölzl jener unmittelbaren Nachkriegsgeneration angehört hat, die mit unstillbarer Neugierde, mit unbremsbarer Schaffenskraft, vor allem aber mit grenzenloser Begeisterungsfähigkeit und Leidenschaft so überaus viel bewegt hat. So oder so: Er wird als Impulsgeber fehlen: Der Konrad-Adenauer-Stiftung, der Stadt Berlin, der deutschen Kulturnation.