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Veranstaltungsberichte

„As you like it“?

Europäische Germanisten bei der KAS tagen über Kanon-Bildung und Kultur im 21. Jahrhundert

„Klassiker sind Dichter, die man loben kann, ohne sie gelesen zu haben,“ schreibt GilbertKeith Chesterton. Und warum soll man heute noch Shakespeare und Cervantes lesen?Beider 400. Todestag fällt auf den 23. April dieses Jahres. Allerdings nach zweiverschiedenen Kalendern, dem gregorianischen und dem julianischen! Damit ist bereitseines der Probleme von Kanonisierungsprozessen bezeichnet: die Frage des Maßstabs.

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Der Kanon nimmt Maß, an ihm wird Maß genommen, und was man lesen soll, ist nicht immer

das, was man lesen möchte. Sechzig Germanisten aus 20 Ländern sprachen in Berlin, auf

der IX. Europäischen Literaturtagung der Konrad-Adenauer-Stiftung, über den Kanon in

Europa.

Susanna Schmidt (Leiterin Begabtenförderung und Kultur der KAS) und Michael Braun

(Leiter Referat Literatur) stellten den Kanon heute als ein „Prägewerk der Identität“ (Aleida

Assmann) vor, als kulturellen Kommunikationscode, der sich um 1800 in seiner nichtreligiösen

Form etabliert habe: Der Text wird auf den Autor, die Anrufung des Heiligen auf

den Prominenten umgestellt.

In seinem Eröffnungsvortrag zur ersten Sektion SHAKESPEARE UND DIE ERFINDUNG

DES MENSCHEN (Moderation: Rune Delfs, Aalborg) perspektivierte Oliver Jahraus

(München) die ‚Erfindung‘ des politischen Publikums durch Shakespeare (insbesondere in

seinem Stück Richard III.) und durch Cervantes Don Quijote: In diesen Fiktionen werde das

Verhältnis von Text und Publikum ästhetisch neu gestaltet. Seine These entwickelte Jahraus

ausgehend vom Beiseitesprechen in Theater und Film (in der TV-Serie House of Cards): Das

steigere den ästhetischen Genuss und führe zur Selbst-Bewusstwerdung des Publikums

eben eines politischen Publikums.

Anschließend nahm Karen Leeder (Oxford) in ihrem Vortrag How to change the subject

Shakespeare-Übersetzungen in der Gegenwartsliteratur in den Blick und reflektierte

insbesondere die Übertragungsgeschichte seiner Sonette, die darauf abziele, durch

Shakespeare zu sagen, was man selbst zu sagen habe. Ihre Argumentation bezog Leeder

auf die ‚radikalen Übersetzungen‘ der Sonette durch Ulrike Draesner und Franz Josef

Czernin, die den Zeithorizont bewusst ausstellten.

Den Abschluss des ersten Konferenztages bildete der Lubitsch-Film To be or not to be (Sein

oder Nichtsein; USA 1942). In seiner Einführung skizzierte Michael Braun (Köln) den

Bauplan dieser doppelbödigen satirischen Tragikomödie, die sich zugleich als Spiel auf

Leben und Tod, als Selbstreflexion der Möglichkeiten des Films sowie als politischer

Kommentar lesen lässt, wobei mit letzterem eine grundsätzliche Frage des Erzählens über

den Nationalsozialismus bezeichnet ist, die nicht in Tucholskys Antwort in Bezug auf die

Satire aufgeht: Darf man trotz der Millionen Opfer über die Nazis lachen?

Der zweite Tagungstag wurde mit der SEKTION KULTUR MACHT KANON (Moderation: Lore

Knapp, Bielefeld) und dem Vortrag von Wolfgang Braungart (Bielefeld) Die Kunst ist keine

Immaculata: Über die Bedeutung schöner Stellen für die Kanonbildung eröffnet. Grundlage

der Ausführungen Braungarts war die These, dass das Verstehen bei der „schönen Stelle“

beginne. Der Kanon als Auswahl des Wahren, Guten und Schönen: dabei kreuzten sich, wie

Braungart an einer Beispielreihe von Hölderlin bis Jan Wagner zeigte, auf exemplarische

Weise Literatur und Leben, Trostreichung und Irritation.

In seinem Vortrag Titel Good readings? Nationaler Kanon vs. Literarische Weltrepublik

akzentuierte Christoph Parry (Vaasa) den Einfluss von Machteffekten auf die Kanonbildung,

intranational und bezogen auf den Transfer von National- und Weltliteratur. Der Kanon sei

eine Erscheinung des Sozial-Imaginären, der insofern der Nation verwandt sei und mit der

Herausbildung kollektiver Werte im Entstehungsprozess der modernen Nationen zu tun

habe.

Stefan Neuhaus (Koblenz) sprach über Orientierung und Kontingenz bei der Kanonbildung.

Eine fragmentierte Gesellschaft bedürfe der Sinnstiftung durch Literatur, zumal unter dem

Druck einer umfassenden Medialisierung. Wichtig aber sei ästhetische Originalität, die eine

Neujustierung der Weltwahrnehmung initiieren könnten.

Die dritte SEKTION der Tagung CERVANTES, GOETHE UND DIE FOLGEN: DIE

ENTDECKUNG DER FIKTION eröffnete Rüdiger Görner (London). Er fragte nach den

Bedingungen des Nachruhms von Shakespeare und Cervantes. In deren Werken, so

Görner, liege das Potential einer Selbstkanonisierung, das durch nachgeborene Dichter und

Komponisten aufgenommen werden konnte. In diesem Kontext diskutierte Görner auch

‚Abnabelungsversuche‘, also die Bestrebung um eine De-Kanonisierung am Beispiel von

Tolstois Angriff auf den King Lear.

Sabine Egger und Sandra Wagner (Limerick) analysierten in ihrem Vortrag zu (Trans-

)nationalen Goethe-Adaptionen in der zeitgenössischen Internet-Kultur die Fortschreibung

des Kanons in einer als partizipativ verstandenen digitalen Welt. Egger und Wagner nahmen

Adaptionen von Goethes Die Leiden des jungen Werthers (1774) in sogenannten Mash-up-

Romanen unter die Lupe. In dieser Online-Fanfiction dienen literarische ‚Kult-Texte‘ als

Vorlage für Horror- und Fantasy-Geschichten. Mash-ups seien der Versuch, die Lücke

zwischen E- und U-Kultur zumindest teilweise zu schließen. Über deren Qualität könne man

indes streiten.

Gerhard Lauer (Göttingen) nahm in seinem Abendvortrag Roboter schreiben, Maschinen

lernen und Menschen lesen neueste Entwicklungen von Sprache und Literatur in Zeiten

intelligenter Systeme in den Blick. „Computer machen nicht dumm und dick“, spitzte Lauer

die Ergebnisse von Metastudien zu. Lesen und Schreiben im Internet seien revolutionär für

Literatur und Literaturbetrieb. Das Transformationspotenzial zeige sich in statistischen

Literaturanalysen und überhaupt in der Auflösung des Buchs als Einheit.

Am Abschlusstag der Konferenz, der von Vahidin Preljević (Sarajevo) moderiert wurde,

erörterte zunächst Petra Brunnhuber (Florenz) in ihrem Vortrag Der Habsburger-Effekt.

Magris‘ Vision von Europa den habsburgischen Mythos in der österreichischen Literatur:

Stefan Zweig beispielsweise sprach von einem „goldenen Zeitalter der Sicherheit“; wobei

diese Formulierung ein – freilich sehr widersprüchliches – Gefühl wiedergebe, das aber

mitunter bis heute in Österreich anzutreffen sei. In einem zweiten Schritt stellte Brunnhuber

die europapolitischen Ideen von Claudio Magris dar, die tief verwurzelt seien in der Kultur

und Kunst des Kontinents. Ein engagiertes Bekenntnis zu diesem – kulturellen und

politischen Europa – sei insbesondere im Zeitalter neuer Populismen vonnöten, die, so

Magris, „Demokratie ohne Demokratie“ schüfen.

Im letzten Vortrag der Tagung zeigte Barbara Naumann (Zürich) Harold Blooms

Shakespeare-Konzeption auf, die nicht anders als maximalistisch zu bezeichnen sei:

„Whatever there is in literary knowledge, it begins and ends with Shakespeare – although

there is no end to Shakespeare.“ Gewissermaßen korrespondierend zu den Darlegungen

von Jahraus legte Naumann dar, dass für Bloom weder die westliche Literatur, noch die

Subjektivität, noch der Kanon ohne Shakespeare gedacht werden könnten. Er sei – in

polemischer Überspitzung: als stärkster Autor nach Gott – zudem eine Chiffre für moderne

Selbstbetrachtung und Autorschaft an sich. Shakespeare, der nach Bloom (wenn überhaupt)

nur vergleichbar ist mit Dante und Cervantes, sei zudem als Autor eine Art Figuration

kultureller Selbstreflexion, und seine berühmteste Figur Hamlet sei als ‚vollendeter Prototyp‘

eines „free artist of himself“ zu verstehen.

Sowohl in den anschließenden Beiträgen als auch in der abschließenden Diskussion mit fünf

Studierenden aus Ost- und Westeuropa unter der Leitung von Heike Kreutz-Arnold (Berlin)

wurde sich aus ganz unterschiedlichen nationalen und auch generationalen Perspektiven auf

den Kanon als ‚performatives Prägewerk‘ unserer gemeinsamen europäischen Identität

bezogen. Der Prozess der Kanonisierung, verstanden als Ergebnis von Selektion und

Sinnbildung, bleibt unabschließbar. Aber es gibt keinen Kanon, ohne dass die Werke, die ihn

stützen, auch gelesen und gedeutet werden: gerade im Europa des 21. Jahrhunderts.

Von Andre Kagelmann (Köln)

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