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Veranstaltungsberichte

Wiener Dialog zur Zukunft Europas 2022

von Michael Stellwag

Potenziale deutsch-österreichischer Kooperation

Vom 25. bis 26. April 2022 veranstalteten wir gemeinsam mit der Universität Passau den dritten „Wiener Dialog zur Zukunft Europas“ in Wien.

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Eigentlich sollte der „Wiener Dialog zur Zukunft Europas“ im Zeichen der Konferenz zur Zukunft Europas stehen, deren Schlussfolgerungen, 49 Empfehlungen und mehr als 300 konkrete Maßnahmen zur Reform europäischer Politik, anlässlich des Europatags am 9. Mai 2022 den Präsidentinnen der Konferenz übergeben werden. Der Überfall Russlands auf die Ukraine, der am 24. Februar 2022 begann und fortdauert, verschob jedoch die Prioritäten. Die Fragen danach, wie die strategische Autonomie der EU und ihre Verteidigungsfähigkeit gestärkt werden können, rückten als Querschnittsthemen in den Vordergrund und wurden in allen vier Arbeitsgruppen, „European Green Deal“, „Wirtschafts- und Währungsunion“, „Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik“ und „Erweiterungspolitik“ intensiv debattiert.

Zusammenhalt der EU ist Voraussetzung für eine erfolgreiche Reaktion auf die russische Aggression
Es wurde ein Homogenisierungsschub der unterschiedlichen strategischen Kulturen in der EU diagnostiziert. In Deutschland ist allerdings die vom Bundeskanzler Scholz angekündigte ‚Zeitenwende‘ umstritten (besonders innerhalb der SPD). In Österreich ist das Bekenntnis zur Neutralität sogar gewachsen. Trotz dieser fortbestehenden unterschiedlichen Einstellungen zur Sicherheitspolitik muss die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) gestärkt und das europäische Sanktionsregime aktiv fortentwickelt werden, um mit überzeugenden Maßnahmen flexibel auf die fortgesetzte russische Aggression reagieren zu können. Hinsichtlich der militärischen Instrumente der EU stimmten die Teilnehmenden darin überein, dass wieder mehr in die Verteidigungsfähigkeit der EU und der einzelnen Mitgliedstaaten investiert werden muss. Als größte Gefahr, die eine Umsetzung dieser Maßnahmen verhindern könnte, wurde die Möglichkeit identifiziert, dass es Russland gelingt, die EU zu spalten, und diese sich in der Folge nicht mehr auf eine gemeinsame Position einigen kann. Die russischen Desinformationskampagnen zur Verbreitung von Kriegspropaganda seien auf dieses Ziel gerichtet. Um jedoch auf die von Russland ausgehende Sicherheitsbedrohung adäquat reagieren zu können, ist deshalb eine Stärkung des Zusammenhalts innerhalb der EU essenziell.

Minilateralismus steigert die Entscheidungseffizienz unter veränderten Kontextbedingungen
Konkrete Ideen und Impulse zu entwickeln, wie der Zusammenhalt in der EU gestärkt werden kann, war ebenso Zielsetzung des Wiener Dialogs 2022, wie die Ausarbeitung von Vorschlägen zur Stärkung der Handlungsfähigkeit der EU, damit diese künftig besser auf eine wachsende Anzahl politischer Herausforderungen reagieren kann. Die akute Bedrohung der europäischen Sicherheit durch Russland hat zwar ein gewisses Momentum geschaffen, bestehende Reformhindernisse und innereuropäische Differenzen zu überwinden. Dennoch erschwert die Entscheidungskomplexität in einer EU der 27 Mitgliedstaaten weiterhin die Einigung auf notwendige Maßnahmen.
Deshalb geht der Wiener Dialog auch unter veränderten sicherheitspolitischen Kontextbedingungen davon aus, dass minilaterale Formate das Potenzial haben, Entscheidungsprozesse auf EU-Ebene zu erleichtern. Voraussetzung dafür ist, dass Staaten zusammenarbeiten, die einerseits ein gemeinsames Grundverständnis europäischer Politik haben und in manchen Politikbereichen ähnliche Interessen teilen, in anderen Politikfeldern jedoch zu europapolitischen Kompromissen gezwungen sind. Demgegenüber würden minilaterale Initiativen aus Mitgliedsländern aus einem gemeinsamen ‚Lager‘ die Kompromissfindung wahrscheinlich eher erschweren.
Auch wenn es mit der Bundestagswahl 2021 europapolitische Akzentverschiebungen im deutschen Koalitionsvertrag gab, erfüllen Österreich und Deutschland die Voraussetzungen für minilaterale Initiativen. Die deutsche Ampel-Koalition aus Sozialdemokraten, Grünen und Liberalen erfüllt sie in gewisser Hinsicht bereits selbst. So haben sich zwar alle drei Parteien im Koalitionsvertrag auf das Ziel der Schaffung eines föderalen europäischen Bundesstaates geeinigt, jedoch ist dies ein Formelkompromiss in der Hoffnung auf eine Symbolwirkung, um europolitische Differenzen in konkreten Politikfeldern zu überdecken. Gelingt es den drei Koalitionsparteien, sich intern auf europapolitische Initiativen zu einigen, so ist auch die Wahrscheinlichkeit hoch, dass Mitgliedstaaten als Unterstützer gewonnen werden können, die unterschiedliche europapolitische Präferenzen haben.
Jüngste Wahlen in anderen Mitgliedstaaten hatten ebenfalls starken Einfluss auf Erfolgsaussichten europapolitischer Reformen. So wurden am Vortag des Wiener Dialogs 2022 der integrationsbejahende französische Präsident Emanuel Macron im Amt bestätigt und der integrationsskeptische Premierminister Janez Janša in Slowenien abgewählt. Beides hat die Aussicht auf die Umsetzung notwendiger europäischer Reformen verbessert. In Ungarn wurde jedoch Ministerpräsident Viktor Orbán im Amt bestätigt, was aufgrund seiner offenen Ablehnung einer stärkeren EU-Integration und vor allem der demokratischen und rechtsstaatlichen Prinzipien der EU nicht nur die europäische Handlungsfähigkeit schwächt, sondern auch ein manifestes Problem für die demokratische Legitimation europäischer Politik darstellt.
Insgesamt zeichnet sich im Vergleich zum Wiener Dialog 2021 eine positive Tendenz hin zu mehr Handlungsfähigkeit der EU ab. Die Ergebnisse der vier Arbeitsgruppen des Wiener Dialogs 2022 zeigten jedoch, dass weiterhin Reformhindernisse bestehen, die es mit konkreten Initiativen zu überwinden gilt.

European Green Deal: Nachhaltigkeitstransformation erfolgreich umsetzen
Auch wenn der Krieg in der Ukraine es notwendig macht, die Nachhaltigkeitstransformation in der EU massiv zu beschleunigen, darf die Rückkopplung der Maßnahmen mit den Betroffenen nicht vernachlässigt werden. Andernfalls droht deren gesellschaftliche Akzeptanz zu schwinden. Nachhaltigkeitstransformation ist eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung, in deren Gestaltung die Bürgerinnen und Bürger eingebunden werden müssen. Auch die organisierte Zivilgesellschaft müsse besser eingebunden werden. Insbesondere Grenzregionen sind dabei eine Herausforderung, da Beteiligungsprozesse nicht innerhalb von Verwaltungsgrenzen, sondern grenzüberschreitend stattfinden müssen.
Bei der Fortentwicklung des Sanktionsregimes gegenüber Russland besteht ein Spannungsverhältnis zwischen sicherheits- und wirtschaftspolitischen Zielen. Im Sinne der Versorgungssicherheit sollte die Abhängigkeit von einzelnen Energielieferanten so schnell wie möglich reduziert werden. Gerade Deutschland und Österreich stoßen angesichts der prognostizierten wirtschaftlichen Folgen eines Embargos für Kohlenwasserstoffe schnell an Grenzen des Machbaren. Dies gilt besonders für den Energieträger Gas, während ein Ölembargo auch kurzfristig realisierbar scheint. Sicherheitspolitisch entscheidend ist dabei, dass die wirtschaftlichen Folgen des Ölembargos für Russland wesentlich schwerwiegender sind als jene eines Gasembargos. Für Gas existieren langfristige Lieferverträge mit festgelegten Preisen. Russland profitiert finanziell weniger von der aktuellen Preisentwicklung. Entscheidend für die wirtschaftliche Tragfähigkeit bleibt jedoch die Beschleunigung der Energiewende in ganz Europa. Sinnvoll ist ein Instrumentenmix in der Governance-Struktur, der Instrumente harter Steuerung mit Anreizen und Maßnahmen zur Förderung eines gesamtgesellschaftlichen Bewusstseinswandels kombiniert.

Ein Europa, das schützt: die Gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik stärken
Die seit mehreren Jahren thematisierte Notwendigkeit einer vertieften sicherheits- und verteidigungspolitischen Integration hat sich durch den russischen Einmarsch in der Ukraine nochmals verstärkt. Insbesondere Frage nach europäischer Souveränität bzw. strategischer Autonomie der EU gilt es nun verstärkt in den Fokus zu nehmen. Auch wenn diese Frage heute primär im Hinblick auf Russland dringlich erscheint, sollten die transatlantischen Verwerfungen nach der Regierungsübernahme Trumps nicht aus den Augen verloren werden.
Vor diesem Hintergrund gilt es das Verhältnis zwischen NATO und GSVP genauer zu definieren. Hier können Deutschland als NATO- und Österreich als Nicht-NATO-Staat unterschiedliche Perspektiven einbringen. Ein Kernpunkt ist die Ausdefinierung von Art. 42 (7) des Vertrags über die Europäische Union, der sog. Beistandsklausel. Im neuen strategischen Kompass wurde diese Frage auf Drängen Schwedens und Finnlands thematisiert, aber nicht weiter ausgeführt. Gerade Österreich, als bald größter verbliebener Nicht-NATO-Staat der EU, könnte eine wichtige Rolle dabei zufallen, dass der anstehende Beitritt beider Länder zur NATO nicht zur Vertagung dieses Themas führt.
In diesem Zusammenhang steht auch die Frage, ob sich die GSVP der Landes- und Bündnisverteidigung zuwenden sollte. Der neue Strategische Kompass bejaht dies dem Grundsatz nach, die EU hat bisher aber noch keine Instrumente hierfür. Auch die im strategischen Kompass neu eingeführte EU Rapid Deployment Capacity im Umfang von 5.000 Soldaten und Soldatinnen soll eher auf Stabilisierungs- und Kriseninterventionseinsätze ausgerichtet sein. Von daher sollte die EU darüber nachdenken, ergänzend zu diesem Instrument multilaterale Verbände an ihrer Ostflanke zu stationieren, um im Sinne einer Tripwire Force deutlich zu machen, dass jeder Angriff auf ein EU-Mitgliedsland einen Angriff auf die gesamte EU darstellt.
Für die Fortentwicklung der GSVP ist auch die Frage der Entscheidungsstrukturen zentral. Hier lässt sich in den letzten Jahren eine partielle Supranationalisierung der GSVP beobachten, die sich u.a. im Europäischen Verteidigungsfond, der Europäischen Friedensfazilität oder der stärkeren Rolle der Kommission widerspiegelt. Deutschland und Österreich mit ihrer grundsätzlich supranationalen Integrationsphilosophie könnten diesen Prozess weiter beschleunigen.
Jenseits der GSVP wurde zum einen die Notwendigkeit des Übergangs zu Mehrheitsentscheidungen in der Gemeinsamen Außen und Sicherheitspolitik (GASP) hervorgehoben, die sich auch ohne Vertragsänderungen im Rahmen der so genannten Passerelle-Klausel erreichen ließen, was allerdings auch eine einstimmige Entscheidung im Europäischen Rat voraussetzt. Des Weiteren wurde unterstrichen, dass die EU die Erweiterungspolitik wieder stärker geostrategisch betrachten und vor diesem Hintergrund die Balkan-Erweiterung wieder stärker in den Fokus nehmen sollte. Österreich als traditioneller Fürsprecher dieses Prozesses und Deutschland als Initiator des Berliner Prozesses fallen hierbei eine besondere Rolle zu.

Wirtschafts- und Währungsunion: einen europäischen Mehrwert schaffen und Synergien nutzen
Die Geber-Nehmer-Debatte in der politischen Auseinandersetzung über den EU-Haushalt muss überwunden werden. Die Krise in der Eurozone hat gezeigt, dass sie eine manifeste Gefahr für den innereuropäischen Zusammenhalt darstellt. Kriterium für Ausgaben des EU-Haushalts sollte sein, dass die Projekte einen europäischen Mehrwert schaffen. Dieser könne auch darin bestehen, dass Projekte auf EUEbene kostengünstiger realisierbar sind. Besonders Investitionen in transeuropäische Infrastrukturen, die Beschaffung von Rüstungsgütern und die Nachhaltigkeitstransformation erfüllen diese Kriterien.
Die Finanzierung gemeinsamer Projekte dürfe aber nicht automatisch zu einer Erhöhung des Finanzvolumens auf EU-Ebene führen. Eine grundlegende Überarbeitung des EU-Budgets ist der fiskalpolitisch sinnvollere Ansatz. Allerdings sind erhebliche Widerstände gegen seine umfassende Reform des EU-Budgets zu erwarten.
Infolge aktueller Lieferkettenprobleme gibt es verstärkt Forderungen, Produktionen zurück in die EU zu verlagern. „Onshoring“ ist aber oft nicht sinnvoll, da mit Rückverlagerungen Kostensteigerungen verbunden sind. Statt einer prinzipiellen Abkehr vom Freihandel, die Deutschland ebenso wie Österreich ablehnt, ist eine stärkere Diversifizierung und Vertiefung der Handelsbeziehungen mit mehr verlässlichen Partnern sinnvoll, während Produktionsrückverlagerungen auf Fälle mit großen Unsicherheiten beschränkt sein sollten.
Zudem stellt sich die dringliche Frage nach der demokratischen Legitimation der Wirtschaftspolitik in der EU. Sowohl das Europäische Parlament als auch die nationalen Parlamente verfügen nur über unzureichende Beteiligungsrechte, die gestärkt werden müssen. Die formellen Beteiligungsrechte des österreichischen Parlaments sind dabei vorbildlich, allerdings werden sie zu selten genutzt. Der Einsatz von Instrumenten partizipativer Demokratie ist lediglich komplementär zur repräsentativen Demokratie sinnvoll. Er könnte beispielweise in Form von Bürgerpanels erfolgen, deren Ergebnisse die Kommission bei der Erarbeitung ihrer Budgetentwürfe erwägt.

Westbalkan: Europa bleibt die bessere Alternative
Aufgrund der Erfahrungen mit der Erweiterungspolitik verliert die EU mit ihren liberalen und demokratischen Werten im Westbalkan im Vergleich zu autokratischen Regimen an Anziehungskraft. Dies unterminiert die Fähigkeit der EU, Reformen auf dem Westbalkan zu befördern. Besonders problematisch ist, dass die autokratische Regierung in Ungarn die Glaubwürdigkeit der EU als Förderer demokratischer Werte beschädigt hat. Dieser Entwicklung muss die EU auf zwei Ebenen begegnen. Einerseits muss die EU durch die konsequente Durchsetzung ihrer Werte und Standards im Innern ihre eigene Glaubwürdigkeit rehabilitieren. Anderseits muss die EU ihren Partnerstaaten außerhalb der EU wirkungsvolle Angebote in Konkurrenz zu Angeboten autokratischer Staaten unterbreiten.
Die traditionell guten Beziehungen Deutschlands und Österreichs zu den Staaten des Westbalkans sollten diese für Initiativen im Bereich der „public diplomacy“ nutzen. Auch eine konsequente Durchsetzung von Standards guter Haushaltsführung liegt im gemeinsamen Interesse der beiden Länder. Die Stärkung des Europäisches Amtes für Betrugsbekämpfung (OLAF) ist eine konkrete Initiative in diesem Sinne, die hilft, das zuvor angesprochene Glaubwürdigkeitsproblem der EU zu beheben.
Jenseits der konkreten politischen Herausforderungen im Heranführungsprozess der Staaten des Westbalkans an die EU, muss von einer Reform der EU-Verträge, wie sie gerade das Europäische Parlament im Anschluss an die Zukunftskonferenz gefordert hat, ein klares Signal für eine Widerbelebung des Erweiterungsprozesses ausgehen. Deutschland und Österreich sollten deshalb sicherstellen, dass die Erweiterungspolitik auf der Agenda der aktuellen Reformdebatte die notwendige Beachtung findet.

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Wissenschaftlicher Referent

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