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Machen wir uns nichts vor: Europa steckt in der Klemme. Und ist gezwungen, zu reagieren. Bei allem Aktivismus sollten wir aber ein paar Regeln nicht außer Acht lassen. Vor allem sollten uns nicht zu sehr in den Vordergrund spielen zu wollen - und ständig über unsere „Kriegstüchtigkeit“, unsere wirtschaftlichen Potentiale und über unsere vermeintlichen Werte reden. Denken wir zurück an die ursprüngliche Idee von Europa. Wir waren ein faszinierendes Mosaik aus scheinbaren Widersprüchen, Ambivalenzen, Leidenschaften. Von Mut und Wut, von Bosheit und Stolz. Es ist an der Zeit, sich von allen vereinheitlichenden Klischees zu verabschieden und sich diese komplexe Realität zu eigen zu machen. Mit anderen Worten: Wir müssen uns gezielt auf das konzentrieren, wozu wir wirklich fähig sind.
Offensichtlich sind wir seit 2000 Jahren in der Kunst der streitbaren Argumentation und letztlich des dialektischen Denkens geschult worden. Der Begriff dialogisch klingt heute ein wenig zu versöhnlich. Es geht aber, wie uns Antigone lehrt, um mehr als das - es geht darum, Gegensätze bis an die äußerste Grenze zu bringen.
Wir haben eine zweite Kernkompetenz gelernt, nach Kant sozusagen von Grund auf: Die Dinge existieren nicht einfach „an sich“ - unsere Wahrnehmung bestimmt die Gestaltung der Tatsachen. Der Preis für dieses Ergebnis ist der Verlust von bestimmten Wahrheiten. Der Gewinn dieses Verfahrens: das Ergebnis einer enormen Freiheit des Denkens. Bis zu einem gewissen Grad bestimmen wir, bestimmt jeder von uns die Koordinaten seiner Existenz.
Und schließlich: Die europäische Existenz ist ein einziges Überschreiten von Grenzen. Die europäische Kultur ist ein Schwamm, der alles aufsaugen und verwandeln kann, wenn wir die Idee einer „Autonomen Republik Europa“ organisieren. In diesem historischen und ganz besonderen Moment plädiere ich für eine allgemeine Debatte, die den europäischen Osten und Westen, Norden und Süden einschließt. Wir sind nicht in der Lage, die Probleme der Welt zu lösen, bevor wir unsere eigenen Probleme gelöst haben. Die EU-Strukturen allein sind hoffnungslos überfordert.
Prof. Jürgen Wertheimer studierte von 1969 bis 1973 Germanistik, Komparatistik, Anglistik und Kunstgeschichte in München, Siena und Rom. In den Jahren 1984/85 habilitierte er sich. Danach war er von 1986 bis 1987 Professeur associé für „Littérature allemande“ in Metz. Von 1991 bis 2015 hatte Wertheimer eine Professur für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik in Tübingen inne.