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"Es wird alles von der Parlamentssitzung abhängen"

Gabriele Baumann, Leiterin des KAS-Auslandsbüros in Kiew, über die Situation in der Ukraine.

Viel werde von der außerordentlichen Sitzung des Parlaments abhängen, die von Regierung und Präsident in den vergangenen Tagen immer wieder als entscheidend hervorgehoben wurde, erklärte die KAS-Expertin Gabriele Baumann gegenüber tagesschau.de.

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tagesschau.de: Die Demonstranten sind aus dem Justizministerium abgezogen, vermutlich ein Kompromissangebot vor der heutigen außerordentlichen Sitzung des Parlaments. Was ist von dieser Sitzung zu erwarten?

Baumann: Von dieser Sitzung hängt sehr viel ab. Wenn hier die zentralen Forderungen der Opposition nicht erfüllt werden, wird die Situation im Land eskalieren. Es wird hier vermutlich zunächst um die vier Forderungen gehen, die die Opposition zusammen mit den Regierungsgegnern auf dem Maidan aufgestellt hat: Amnestie für diejenigen, die in den letzten Wochen festgenommen wurden, Rücknahme der Verurteilungen, Rücknahme der umstrittenen Gesetze, die am 16. Januar verabschiedet wurden, und die Absetzung der derzeitigen Regierung - also des Ministerpräsidenten und des Kabinetts - mit Einsetzung einer neuen Regierung.

Update zur Situation in der Ukraine (28. Januar 2014)
Im Interview mit NDR2 sagte Gabriele Baumann, Leiterin des KAS-Auslandsbüros in Kiew, der Konflikt in der Ukraine werde sich nun nach dem Rücktritt von Premier Asarow allmählich auflösen. Gemeinsam im Dialog werden Regierung und Opposition das Land aus der Krise führen.

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Aus diesen Kernforderungen ergeben sich weitere Forderungen der Opposition, die aber morgen vermutlich nicht verhandelt werden: Die Rückkehr zur Verfassung von 2004, in der dem Präsidenten weniger Macht eingeräumt wird, als er derzeit hat. Neuwahlen des Parlaments und vorgezogene Präsidentschaftswahlen noch in diesem Jahr.

tagesschau.de: Nachdem Demonstranten das wichtige Justizministerium besetzt hielten, schien die Situation zu kippen. Wieso war es so einfach für die Opposition, dort einzudringen? Es soll kaum Widerstand gegeben haben.

Baumann: Das wissen wir nicht genau. Aber es gibt Hinweise, dass die Sicherheitskräfte aus weiten Teilen des Landes abgezogen wurden und sich in Kiew sammeln, um sich darauf vorzubereiten, den Maidan zu räumen. Das deutet sich seit einigen Wochen an. Und das würde auch erklären, warum es Regierungsgegnern in anderen Teilen des Landes derzeit gelingt, mehr als zehn Verwaltungsgebäude besetzt zu halten. Wir können beobachten, dass die Staatsmacht die Kontrolle über die Ereignisse verloren hat. Auch die Sicherheitskräfte haben nicht mehr die Kontrolle. Trotzdem würde ich keine vorschnellen Schlüsse ziehen, dass dies das Ende Janukowitschs bedeuten muss. Wir wissen nicht, welche Potenziale auf Seiten der Staatsmacht noch schlummern.

tagesschau.de: Die Justizministerin Jelena Lukasch hat angekündigt, dass möglicherweise der Notstand ausgerufen werden könnte. Was würde das bedeuten?

Baumann: Das ist in der Tat eine große Gefahr, die verheerende Konsequenzen haben könnte. Wenn das Parlament in seiner Sitzung - mit einer wie auch immer gearteten Mehrheit - den Ausnahmezustand beschließt, wird die Lage eskalieren und es wird zu noch mehr Gewalt kommen. Wenn die umstrittenen Gesetze vom 16. Januar in Kraft bleiben, würden noch weit mehr Menschen verhaftet und hart bestraft werden. Schon jetzt sind insgesamt etwa 1500 Urteile mit teils harten Strafen gesprochen worden. Die würden sicher noch ausgeweitet.

tagesschau.de: Wie bewerten Sie das Angebot von Präsident Janukowitsch, der Opposition führende Regierungsämter zu geben?

Baumann: Das war ein Schritt, der uns alle überrascht hat. Natürlich ist er nur durch den Druck der Opposition zustande gekommen. Aber man darf diesem Angebot auch nicht zu sehr trauen, es ist mit Fallstricken verbunden. Der Präsident kann zwar heute einen neuen Ministerpräsidenten der Opposition einsetzen, er kann ihn aber auch jederzeit wieder absetzen.

tagesschau.de: Warum hat die Opposition Janukowitschs Angebot zu führenden Regierungsämtern vorerst abgelehnt?

Baumann: Sie hat das Angebot ja nicht wirklich abgelehnt, sondern an weitere Bedingungen geknüpft. Die Opposition hat sehr klar gemacht, dass sie bereit ist, Regierungsverantwortung zu übernehmen. Aber nur, wenn die eingangs beschriebenen zentralen Forderungen der Opposition ebenfalls erfüllt würden, beispielsweise die Rückkehr zur Verfassung von 2004. Sonst liefe die Opposition Gefahr eine Marionette des Präsidenten zu werden.

tagesschau.de: Wie realistisch ist es, dass es dazu kommt?

Baumann: Es wird alles von der Parlamentssitzung abhängen. Wenn die Abgeordneten auf die Forderungen der Demonstranten eingehen und diese auch umsetzen, dürften die Tage des Präsidenten gezählt sein. Die umstrittenen Gesetze würden zurückgenommen, es gäbe eine neue Regierung und die könnte dann vorgezogene Präsidentschaftswahlen beschließen. Ich habe nach dem Auf und Ab der vergangenen Tage und Wochen wieder eine begründete Hoffnung auf eine friedliche Lösung.

tagesschau.de: Welche Strategie verfolgt Janukowitsch?

Baumann: Momentan ist keine echte Strategie erkennbar. Wenn man überhaupt von einer Strategie sprechen kann, dann ist es vielleicht eine Hinhaltetaktik. Seit Janukowitsch vor drei Tagen das Angebot führender Regierungsämter für die Opposition und einer Amnestie der Gefangenen gemacht hat, haben wir nichts mehr von ihm gehört. Die Amnestie ist nicht erfolgt. Er hat Dinge versprochen, die er nicht umgesetzt hat, deshalb glauben ihm die Menschen nicht mehr. Und auch deshalb kam es zur Besetzung des Justizministeriums. Die Regierungsgegner werden den Maidan sicherlich nicht freiwillig räumen, damit der Präsident doch noch die Amnestie verfügt. Eines ist klar: Der Präsident muss jetzt in Vorleistung gehen, wenn eine Eskalation vermieden werden soll.

tagesschau.de: Die Demonstranten werden von ihrer Maximalforderung nach Neuwahlen und dem Rücktritt des Präsidenten wohl nicht abrücken. Wird Janukowitsch sich mit allen Mitteln an die Macht klammern?

Baumann: Er wird es auf jeden Fall versuchen. Es geht dabei immerhin um ein ganzes Wirtschaftsimperium, das er und seine Familie in den letzten drei Jahren aufgebaut haben. Er muss befürchten, alles zu verlieren, wenn er die Macht abgeben würde. Obwohl es vernünftige Stimmen gibt, die sagen, man sollte ihm seine Paläste lassen und die wirtschaftliche Grundlage nicht entreißen. Auch ich bin dieser Meinung, Blindjustiz ist keine Lösung. Nur muss man realistisch sagen: In weiten Teilen des Landes gibt es mittlerweile einen regelrechten Hass auf die Staatsmacht. Janukowitsch hat einen schweren Stand. Er muss jetzt handeln.

Das Interview führte Sandra Stalinski, tagesschau.de

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Leiterin des Projekts Nordische Länder

gabriele.baumann@kas.de 0046 8 6117000
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Massenproteste in Kiew, Ukraine | Foto: dpa dpa

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