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„Was die Eigenliebe heischet“

von Prof. Dr. phil., Dr. litt Klaus Rosen

Serie: „Warum die Geisteswissenschaften Zukunft haben!“ (2)

„Warum die Geisteswissenschaften Zukunft haben!“Sagen wir es mit Goethe: „Wer nicht von dreitausend Jahren/ Sich weiß Rechenschaft zu geben,/ Bleibt im Dunkeln unerfahren,! Mag von Tag zu Tage leben.“ Darin könnte bereits die autoritative Antwort auf die Frage nach dem Sinn der Alten Geschichte bestehen. Doch geht es zunächst nur um die Zahl: Die erste Hälfte der 3000 Jahre umfasst ziemlich genau die Zeitspanne, die nach herkömmlicher Fächereinteilung die Alte Geschichte, das Arbeitsfeld des Althistorikers, ausmacht, also die etwa 1000 vor Christus einsetzende griechische Geschichte und die nachfolgende römische.

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Um 500 nach Christus geht die griechisch-römische Epoche in das Mittelalter über. Goethe hat

recht, wenn er auf die Kontinuität und mithin auf die Einheit der

3000-jährigen Geschichte abhebt, und zwar der europäischen, wie wir noch

sehen werden. Ablesbar ist die Kontinuität vor allem am Christentum, das mit

dem letzten Drittel der ersten 1500 Jahre beginnt und als dritter großer

Strang zur griechisch-römischen Antike hinzutritt.

 

 

Aber gibt es heute noch viele, die nicht "im Dunkeln unerfahren" bleiben

wollen und sich mit der Alten Geschichte beschäftigen? Welche Rolle spielt

dieses Fach oder allgemeiner die Antike im Bewusstsein der Öffentlichkeit?

Keine kleine, so der Eindruck, wenn man die Besuchermassen beobachtet, die

sich in Ausstellungen zu Themen wie Troja oder Konstantin dem Großen

drängen. Auch Filme über Alexander den Großen oder Hannibal sind

Publikumsrenner, und Biografien über Cäsar, Nero oder Marc Aurel finden

immer ihre Leser. Wie oft werden im Internet Themen oder Personen der Antike

angeklickt? Ergänzend zu Ausstellungen, Filmen und Büchern wird es nicht

selten sein. Bleibt dank dieser Medien auch historisches Wissen hängen?

In den Feuilletons der überregionalen Zeitungen werden Neuerscheinungen zu

antiken Themen regelmäßig besprochen, auch wenn, natürlich, die Neue

Geschichte und die Zeitgeschichte stärker vertreten sind. Und der Blick auf

die Spielpläne der deutschen Bühnen zeigt, dass auch die griechischen

Tragiker sowie die griechischen und römischen Komödien nicht vergessen sind.

 

 

Kaum ein Regisseur versäumt, seinem Publikum vorzuführen, wie zeitgemäß die

Antike ist. Mancher Zuschauer bekommt danach Lust, die alten Texte zu lesen;

der beachtliche Bestand an Übersetzungen antiker Autoren dient gewiss nicht

nur Studenten, die eine Hausarbeit in Alter Geschichte schreiben.

Eine einst wichtige Vermittlerin der Antike scheint mir aber schwacher

geworden zu sein: die Schule. Der Rückgang des Lateins, der sich erst in

jüngster Zeit umkehrt, und der Wegfall des Griechischen auf dem

humanistischen Gymnasium sind ein Grund. Dazu kommt die Neugestaltung des

Geschichtsunterrichts, der sich in Alter und mittelalterlicher Geschichte

auf thematische Schwerpunkte konzentriert. Diese dem Universitätsstudium

abgeschaute Form soll Aspekte der Antike und des Mittelalters aktualisieren.

Aber in der Schule lässt sich mit derartigen Probebohrungen eine fremde

Gesamtepoche nicht recht erfassen. Angehende Geschichtsstudenten haben von

Alter und mittelalterlicher Geschichte kaum je eine Ahnung. Dennoch: Heute

besucht fast die Hälfte eines Jahrgangs das Gymnasium und kommt im

Geschichtsunterricht wenigstens einmal mit der Antike in Berührung. Einen

Kontakt anderer Art bietet der moderne Massentourismus in den europäischen

Süden, in die Türkei und nach Nordafrika. Vermutlich beschäftigt sich

mancher Reisende, angeregt von den antiken Bauwerken und Exponaten, zu Hause

mit der Geschichte, Literatur und Kunst der Antike. Schließlich die Alte

Geschichte in Forschung und Lehre: Dass das Fach in Deutschland und in den

anderen europäischen Ländern oder in den Vereinigten Staaten kränkelt, wird

niemand behaupten, der einen Blick in die Bände des ,L'Annee philologique"

wirft, des vollständigsten internationalen Jahresverzeichnisses der

Altertumswissenschaft. Die Zahl der Titel hat in den vergangenen Jahren

stetig zugenommen und liegt mittlerweile bei über 13 000 Einträgen pro Jahr.

Die intensive Forschung hat dazu geführt, dass wir heute die Antike in ihrer

geistigen und gesellschaftlichen Entwicklung besser verstehen als je zuvor.

"L'Annee philologique" spiegelt auch wider, wie verflochten die

altertumswissenschaftlichen Fächer heute sind.

 

 

Eine Mittelstellung nimmt dabei die Alte Geschichte ein. Griechische und

lateinische Philologie stehen an erster Stelle, schon weil ohne

Sprachkenntnisse gründliches wissenschaftliches Arbeiten unmöglich ist.

Archäologie und antike Rechtsgeschichte, Philosophie und

Religionsgeschichte, Patrologie und alte Kirchengeschichte sind weitere

produktiv eingebundene Nachbarfächer. Die Alte Geschichte bedient sich ihrer

Ergebnisse und liefert ihnen den Hintergrund, und das umso mehr, als deren

ästhetische oder dogmatische Leitlinien längst von einer historischen

Betrachtungsweise abgelöst wurden.

 

 

Auch der geografische Rahmen der Alten Geschichte hat sich verändert. Der

alte Orient und Ägypten gehören als Vor- und Begleitkulturen zur griechischen

Geschichte, und in der römischen Geschichte werden die Völker rings um das

Imperium Romanum einbezogen. Deren Verbindungen zum großen Nachbarn haben

sich in der griechischen und lateinischen Literatur niedergeschlagen. Sie

verlieh den schriftlosen sogenannten Randkulturen eine Stimme, die heute

hilft, ihre materiellen Hinterlassenschaften zu interpretieren. Ethnologen

und Linguisten, die sich mit Skythen, Thrakern, Illyrern oder Berbern

beschäftigen, kommen ebenso wenig ohne Alte Geschichte und Altphilologie aus

wie die Keltologie und die germanische Altertumskunde.

 

 

Hilfe kommt zudem immer mehr von den Naturwissenschaften, der

Paläopathologie, der Paläobotanik und der anorganischen Chemie mit der

,4C-Methode. Und jüngst entschied die Genforschung den 2500 Jahre alten

Streit um die Herkunft der Etrusker: Herodot hatte recht, sie waren kein

autochthones Volk der italienischen Halbinsel, sondern kamen aus Kleinasien. Zu

einer wertvollen Helferin der Altertumswissenschaften hat sich auch die

Unterwasserarchäologie mit ihren spektakulären Funden entwickelt.

Die Alte Geschichte steht also in einem großen altertumswissenschaftlichen

Verbund. Würde sie wegfallen, entstünde im kulturellen Leben der Gegenwart

ein großes Loch, für das gewiss weder ein Politiker noch ein

Naturwissenschaftler die Verantwortung tragen möchte.

 

 

Doch was hat uns die Antike heute noch zu sagen? Der Zweifel, der in der

Frage mitschwingt, ist alt, sogar sehr alt: Er geht auf die Antike selbst

zurück. Die schlichteste Rechtfertigung hat Goethe geboten: Wer Europas

Gesamtgeschichte kennen will, muss die Antike einbeziehen, bei ihr muss

anfangen, wer die europäische Gegenwart aus ihren geistigen Wurzeln heraus

begreifen will. Wie sonst soll man den Unterschied zwischen Europa und

Indien oder China erklären? Deren geistige Physiognomie versteht letztlich

nur, wer mit Goethe 3000 Jahre zurückgeht. Keinem gebildeten Inder oder

Chinesen würde einfallen, das zu bestreiten. Sie wissen: 3000 Jahre

Geschichte machen Indiens und Chinas Identität aus.

 

 

Für Europa und für sein geistiges Ziehkind Amerika gilt dasselbe. Darauf

verwiesen osteuropäische Intellektuelle, als die Europäische Union nach

Osten erweitert wurde. Weil die Türkei diese Identität nicht teilt, tut sich

die Union mit der Einbeziehung Kleinasiens so schwer, solange sich die

Türkei nicht offiziell darauf besinnt, dass auch ihr Staatsgebiet für weit

mehr als tausend Jahre dem griechischrömischen Kulturkreis angehörte.

Wer also Europas geistige Einheit fördern will, muss fordern, dass die Alte

Geschichte eine Zukunft, nicht nur eine Vergangenheit hat! Im Grunde

genommen hat ja die Antike kein Ende genommen. Jedes Jahrhundert führte die

Auseinandersetzung auf seine Weise. Heute gilt es das Bewusstsein zu

fördern, dass die Antike mit ihren Komponenten Griechentum, Römertum und

Christentum zum bleibenden geistigen Profil des Kontinents beigetragen hat

und weiter beiträgt. Diese Aufgabe hat zunächst die höhere Schule, die

mittlerweile von jedem zweiten europäischen Jugendlichen besucht wird.

Unterrichtsgrundlage könnte ein international zu erarbeitendes

Geschichtsbuch sein, das anders als das "Europäische Geschichtsbuch" von

1992 der Antike und ihren Wirkungen den nötigen Raum gibt. Europas

Universitäten sollten dem Vorbild der USA folgen, wo das Bachelorstudium

auch auf Allgemeinbildung Wert legt. Der Bologna-Prozess hat

Rahmenbedingungen festgelegt; zu Inhalten hat er nichts gesagt. Warum soll

man nicht in den Cultural Studies ein europaweites Modul "Die Antike und ihr

Nachleben" einführen, bei dem Studenten aller Fächer Punkte für ihren

Abschluss sammeln können? Auch in das Programm "lebenslanges Lernen" könnte

die Antike ihr Wissenspotenzial einbringen. Dass es gerade von der älteren

Generation bereitwillig angenommen würde, lehren die zahlreichen Senioren,

die seit einiger Zeit die universitären Veranstaltungen zur Alten Geschichte

besuchen.

 

 

Eine solche Bildungsoffensive darf sich auf Goethe berufen. Seine oben

zitierten Verse beschließen ein Gedicht aus dem "Buch des Unmuts" im

"West-östlichen Divan". Es beginnt mit einer Klage über die Zersplitterung

Europas. Goethe dachte dabei an das diplomatische Geplänkel auf dem Wiener

Kongress: "Und wer franzet oder britet,/ Italienert oder teutschet,/ Einer

will nur wie der andere,/ Was die' Eigenliebe heischet." Über der Eigenliebe

hat Europa sein Erbe vergessen; es lebt, wie der letzte Vers besagt, "von

Tag zu Tage". Doch Goethe war überzeugt, dass sich die nationalen Egoismen,

wenn nicht aufheben, so doch zügeln ließen. Die Europäer müssten sich nur

bewusst werden, dass sie eine 3000-jährige Geschichte verbindet.

 

 

Heute haben wir Europas politische Einheit erreicht. Doch Johann Wolfgang

von Goethes Feststellung von 1814, dass der eine wie der andere nur will,

"was die Eigenliebe heischet", klingt, als habe er sie den Mitgliedern der

Europäischen Union kürzlich ins Stammbuch geschrieben. Wenn es ein Mittel

gegen die nationale Eigenliebe geben sollte, ist es dann nicht am ehesten

das von Goethe empfohlene? Auch für die fernere Zukunft sollte Europa der

griechisch-römisch-christlichen Antike in seinem geistigen Haushalt einen

festen Platz einräumen. Sie könnte dringend gebraucht werden, falls eines

Tages der Versuch unternommen wird, den Europäern eine ihnen fremde

Vergangenheit als die bessere religiöse und geistige Grundlage aufzuzwingen.

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Bestellinformationen

Herausgeber

Prof. Günther Rüther und Prof. Jörg-Dieter Gauger

verlag

Herder Verlag

ISBN

978-3-451-29822-6

erscheinungsort

Freiburg Deutschland