Alois Mertes gehört bis heute zu den prägenden Außenpolitikern der Christlichen Demokratie in Deutschland. Zwanzig Jahre in der noch jungen Bundesrepublik (1952-1971) war er im Auswärtigen Dienst tätig – u.a. in Paris, Moskau und im Studienseminar Henry Kissingers an Harvard University. 1972, auf dem Höhepunkt der Debatte um die „Ostverträge“, wurde er Bevollmächtigter des Landes Rheinland-Pfalz beim Bund und gestaltete so für CDU und CSU den Weg zur „Gemeinsamen Entschließung“ von Bundesrat und Deutschem Bundestag inhaltlich entscheidend mit. Noch im selben Jahr zog er in den Deutschen Bundestag ein und wurde rasch zu einer führenden Figur der Außen- und Deutschlandpolitik der Unions-Fraktion. Mit dem Regierungswechsel von 1982 erfolgte die Ernennung zum Staatsminister im Auswärtigen Amt.
Maßgebliche Debatten der internationalen Politik der sechziger, siebziger und frühen achtziger Jahre hat er inhaltlich begleitet – und dabei Grundlagen für das Verständnis christlich-demokratischer Politik gelegt. Hier werden sie anlässlich des 40. Gedächtnistages im Spiegel einiger biographischer Eckpunkte zusammengefasst:
1. Herkunft, Jugenderfahrungen in Krieg und Gewaltherrschaft und Lehren aus der deutschen Geschichte für die Politik
Alois Mertes wurde am 21. Oktober 1921 in Gerolstein geboren – als eines der „Kinder der Eifel“, die ihre Heimat aus beruflichen Gründen für viele Jahre verlassen haben, aber ihre heimatlichen Prägungen bewahrten, ja sogar als Konditionierung für Ihr Denken und Handeln sahen. Seine Kindheit war von den traditionellen Gegebenheiten seiner Heimat bestimmt. Das Religiöse gehörte in diesem „Land mit eineinhalb Tausend Jahren katholischer Kultur“ (so sein Studienfreund und späterer Bonner Historiker Konrad Repgen) zur bestimmenden Ordnung des Daseins, das sich auf dem Boden des westlichsten deutschen Mittelgebirges einfach, aber deswegen nicht unbedingt ärmlich gestaltete. Mehr als ein halbes Jahrhundert nach seiner Geburt von dem Journalisten Walter Henkels nach den heimatlichen Prägungen gefragt, wird der Politiker Alois Mertes darüber hinaus erklären, er fühle sich als „Grenzlandbewohner“: „die Kraft der Zugehörigkeit zum eigenen Volk, aber auch die geistige Brücke zum Nachbarn“ seien dort besonders deutlich zu verspüren. Ein erster, selbst organisierter Schüleraustausch mit Frankreich fand 1939 unmittelbar vor Kriegsbeginn statt. Nicht nachzulassen im Pflegen konkreter Auslandskontakte – das bedeutete ihm zeitlebens viel. Aber zunächst wiesen die historischen Rahmenbedingungen in eine fatal-entgegengesetzte Richtung.
Der Nationalsozialismus blieb ihm fremd, der Kriegsdienst ein Alptraum – auch wenn er selbst dankbar auf einen vergleichsweise milden persönlichen Kriegsverlauf blicken konnte. Zahlreich sind die Hinweise und Nachweise, welche seine inhaltliche Ablehnung des Nationalsozialismus und auch verdecktes Gegenarbeiten im Rahmen seiner Kirchengemeinde dokumentieren. Erstaunlich offen sind ebenfalls die Apelle der überlieferten Korrespondenz aus Kriegstagen, die das Christentum und die „Konstruktivität unseres Glaubens“ für die Zeit nach dem Krieg empfahlen. Und diese Einstellung fand auch im unmittelbaren Handel ihren Ausdruck, wenn er z.B. im Rahmen seiner kirchlichen Gemeindearbeit regimekritische Flugblätter verteilte.
Zu diesen Erkenntnissen, die er wenige Jahre später im Auswärtigen Dienst weiterentwickeln sollte, gehörte die Einsicht, man müsse in Deutschland stärker in das Bewusstsein rücken, was man über Krieg, Kriegsverbrechen und Gewaltherrschaft den Nachbarländern angetan habe. Das gelte zum Beispiel mit Blick auf Polen oder natürlich auch auf Frankreich – wo Mertes sich als Diplomat in Marseille und in Paris persönlich und mit Verve um „Entschädigungsleistungen“ für Opfer deutscher Besatzungsherrschaft kümmerte. Gegenüber dem bekannten französischen Soziologen Raymond Aron führte er seine Gedanken weiter aus: „[...] wir wissen, daß Hitlers verlorener Krieg, den das deutsche Volk mitgemacht hat, uns eine Rechnung eingebrockt hat, um deren Bezahlung wir nicht herumkommen.“
Der innen- wie außenpolitische Umgang mit der deutschen Geschichte und ihren Verbrechen hat ihn später sehr beschäftigt. Bekannt wurde nicht zuletzt sein Auftritt vor dem American Jewish Committee auf dem Höhepunkt der sogenannten Bitburg-Kontroverse im Mai 1985. Drei Aspekte – verkürzt gesprochen – bewegten Mertes vor allem:
a) Aus seiner Sicht war es durchaus legitim, einen solchen Besuch auf dem Soldatenfriedhof für politisch wenig sinnvoll zu halten. Und es darf als fraglich gelten, ob er selbst diesen Termin für eine politisch sehr durchdachte Aktion hielt. Aber es war ihm eben auch sehr wichtig festzustellen, dass man ein gemeinsames Gedenken über den Gräbern nicht per se als unmoralisch abqualifizieren dürfe. Diese Differenzierung war für sein Gerechtigkeitsempfinden ganz essentiell.
b) Für Mertes war es bitter, mit seiner Eifel-Heimat ausgerechnet jene Region als Gegenstand falscher Verdächtigungen zu sehen, die deutschlandweit mit am wenigsten mit dem Nationalsozialismus und auch anderen totalitären Diktaturen zu tun hatte.
c) Schließlich erhoffte er sich mehr Anerkennung für die glaubwürdige Reintegration der Bundesrepublik Deutschland in die zivilisierte Staatenwelt – sowie für den besonders hohen Bündnisbeitrag, den die Eifel seit Jahrzehnten leistete und bis heute leistet. Gerade im amerikanischen Judentum fand der Beitrag von Alois Mertes ein bemerkenswertes Echo und Verständnis. Ihn selbst hat genau das sehr bewegt, dankbar hielt er fest: „Hier spürt man als Deutscher und als Christ, was Wille zur Versöhnung und zum Frieden ist.“
Dazu gehörte aber auch ganz unmissverständlich, dass sich die Bundesrepublik Deutschland niemals aus der historischen Verantwortung für das Judentum und für den Staat Israel herausstehlen dürfe, wie er gleich Anfang November 1982 als einer seiner ersten Texte als Staatsminister der neuen Bundesregierung Helmut Kohl formulierte: „Auf Grund dieser Vergangenheit gehört unsere Solidarität mit den Überlebenden des Völkermordes, der im Namen Deutschlands begangen wurde, zum Ethos und zur Würde der deutschen Außenpolitik. Das war so und das bleibt so. Daß diese Solidarität insbesondere dem jüdischen Volk und dem Staate Israel gebührt, versteht sich von selbst für jeden, dessen politische Maßstäbe nicht von Willkür, sondern von Verantwortung geprägt sind.“
Mertes‘ Einsatz zur Begnadigung der letzten im Ausland wegen Kriegsverbrechen internierten deutschen Soldaten (wie auch der z.B. von Richard von Weizsäcker oder von Willy Brandt) wurde teils begrüßt, teils deutlich kritisiert. Er hatte während seiner diplomatischen und politischen Tätigkeit nie Zweifel an der Verurteilungswürdigkeit und an der Verurteilungsnotwendigkeit der deutschen Kriegsverbrechen gelassen. Der „christliche Humanist“ (so der belgische Außen- und Premierminister Léo-Clement Tindemans rückblickend über Mertes) empfand, dessen ungeachtet, seinen politischen Einsatz für eine Begnadigung der gesundheitlich angegriffenen Täter nach ca. vierzig Haftjahren als eine persönliche christliche Pflichterfüllung. Die Idee des Gnadengesuchs sollte gerade nicht die Verbrechen banalisieren, das war ihm sehr wichtig.
Gleich nach dem Krieg, sobald es wieder möglich war, nahm er den unmittelbaren Kontakt in das Ausland wieder auf. Längere Frankreich-Aufenthalte erfolgten noch während der Besatzungszeit. Wissenschaftliches Interesse an den deutsch-französischen Beziehungen führte Mertes schließlich 1949/1950 für ein Studienjahr nach Paris, wobei er im Rahmen seiner Promotion über die Stellung Frankreichs zur deutschen Märzrevolution zum ersten Mal eingehend mit außenpolitischen Aspekten konfrontiert wurde. Es war der Kreis der Pariser Studentengemeinde, der während seiner Ausbildungszeit sein Interesse für politische und soziale Probleme weckte. Und, nicht zu vergessen: Dort lernte er auch seine spätere Ehefrau Hiltrud Becker kennen, die er 1951 heiratete. Fünf Kinder gingen aus der Ehe hervor.
2. Das nationale Selbstbestimmungsrecht und die Verteidigung der Freiheit – Grundüberlegungen zur Außen- und Deutschlandpolitik
Erfahrungen der unmittelbaren Nachkriegszeit mit jungen Franzosen und französischen Geistlichen machten ihn zu einem überzeugten Europäer, der zunächst kaum Zweifel an einem automatischen Aufgehen der europäischen Nationalstaaten in einem gemeinsamen Europa hegte. Spätestens in den ersten Jahren seiner diplomatischen Tätigkeit wich seine Einstellung hinsichtlich der Existenz von Nationalstaaten einer Sichtweise, die eine fundamentale Bedeutung von nationalen Empfindungen für die Außenpolitik betonte. Trotzdem gehörten die Zustimmung zur europäischen Integration und die Warnung vor einem Abgleiten Deutschlands in eine wie auch immer aussehende Form von „National-Neutralismus“ weiterhin zu seinen zentralen Anliegen.
Eine weitere außenpolitische Grundeinsicht erwuchs Mertes aus seiner Auseinandersetzung mit dem Saarproblem, das ihm als das schwerwiegendste Hindernis für einen Ausgleich zwischen Deutschland und Frankreich erschien. Die Achtung des freien Selbstbestimmungsrechtes der Völker wurde für Mertes zur Grundmaxime seines außenpolitischen Denkens. Sie erschien ihm letztlich so fundamental, dass er für sein Insistieren auf dem freien Wahlrecht für die Bevölkerung des Saargebietes sogar eine „erste“ (wenn auch nur kurzzeitige Ausweisung aus der französischen Besatzungszone in Kauf nahm. (Eine zweite Ausweisung sollte 1966 in seiner Rolle als Diplomat erfolgen – ein formaler sowjetischer „Vergeltungsakt“ wegen zuvor erfolgter Ausweisungen sowjetischer Diplomaten aus Bonn.)
Gleichwohl tat das seinem Vertrauen auf die Entwicklungsfähigkeit des deutsch-französischen Verhältnisses keinen Abbruch. Im Gegenteil: Frankreich wurde zu einer bestimmenden und sehr konstruktiven Wegmarke während seiner Zeit im Auswärtigen Dienst, in den er 1952 eintrat und der ihn 1958 bis 1963, also im „Sommer der deutsch-französischen Beziehungen“ (Ulrich Lappenküper) zu Zeiten Konrad Adenauers und Charles de Gaulles, an die Seine führte. Durch die Erfahrungen in Paris sah Mertes seine zuvor in der privaten Begegnung mit Frankreich gereifte außenpolitische Grundhaltung bestätigt. Als Kernforderung der deutschen Außenpolitik galt für ihn der Primat der Freiheit und des freien Selbstbestimmungsrechtes. Diese Erkenntnis beruhte nicht nur auf seiner prinzipiellen Wertschätzung des Freiheitsgutes, sondern darüber hinaus auf der nüchternen Erkenntnis, dass man auf Seiten der westlichen Verbündeten mit Bonn zwar bezüglich der Forderung nach Freiheit einer Meinung sei, jedoch ungleich weniger Interesse für eine deutsche Wiedervereinigung zeige. Mertes sah es als Glücksfall für die Deutschen an, dass deren Forderungen nach freier Selbstbestimmung und nach Wiedervereinigung identisch seien.
Gegenüber diesen Gedanken maß Mertes der Frage nach dem endgültigen Verbleib der Ostgebiete bereits Ende der fünfziger Jahre weniger Gewicht bei. Entscheidend war für ihn allerdings, dass diese Frage bis zur endgültigen Regelung der Deutschen Frage durch Vereinbarung eines gesamtdeutschen Souveräns mit den Vier Mächten und mit den polnischen Nachbarn völkerrechtlich offenblieb, auch wenn sie es politisch nicht mehr war.
Überlegungen zu den Fragen der Freiheit und des Selbstbestimmungsrechtes verbinden Mertes‘ diplomatische Tätigkeit in Paris mit dem sich von 1963 bis 1966 anschließenden und so anders gearteten Auslandsposten in Moskau. Der Eindruck, dass sich die sowjetische Strategie gewandelt habe und zunehmend geschickter auf die nunmehr langfristige Festigung ihres ideologischen und territorialen Besitzstandes in Europa hinwirke, war für Mertes’ weitere Beurteilung der Moskauer Politik wesentlich. Man habe es, so das Urteil des Diplomaten nach seiner Rückkehr nach Bonn, zu tun mit „eine[r] nach aussen [sic] keineswegs stur wirkende[n] Linientreue in der Verfolgung des sowjetischen Nahzieles im Umgang mit der Bundesrepublik Deutschland: Einschläferung des grössten [sic] politischen Handicaps der Sowjets: in Europa nämlich der deutschen Forderung nach Wiedervereinigung durch Selbstbestimmung als Voraussetzung einer dauerhaften Entspannung.“
3. Möglichkeiten und Grenzen der Entspannungspolitik
Bereits Ende der sechziger Jahre formulierter Mertes, „Echte Entspannung“ sei natürlich und grundsätzlich zu begrüßen, „weil sie beide Seiten in die Lage versetzt, in ihren Ländern einen größeren Teil der nationalen Kräfte für konstruktive nichtmilitärische Kräfte einzusetzen.“ Bei alledem sei jedoch der Grundsatz zu bedenken: „Entspannung ist nur in dem Maße möglich, wie die Ursachen von Spannung gemindert oder beseitigt werden.“ – und diese Ursachen sah der Diplomat wie Politiker Alois Mertes im machtpolitischen, imperialen Kalkül und natürlich auch im ideologischen Dogma (Klaus Hildebrand) der Sowjetunion – sowie aus der daraus resultierenden Missachtung von Freiheit und Menschenwürde in Europa und auch in anderen Kontinenten.
Bei seiner Begriffsbestimmung des Wortes „Entspannung“ hob Mertes kritisch hervor: „Die [die] Diskussion entscheidende internationale Probleme sind irgendwie vernebelt, wenn nicht völlig verdunkelt, durch die Mehrdeutigkeit einiger Schlüsselworte wie ‚Kalter Krieg’, ‚Sicherheitssystem’, ‚Aggressivität’, ‚nationales Interesse’.“ Dieser „Mangel an Klarheit“ schone zwar „die Nerven der öffentlichen Meinung“, er schaffe jedoch „Illusionen der Übereinstimmung, die [...] allzu oft in tragischen Desillusionen enden“, und schade sowohl glaubwürdiger als auch dauerhafter Entspannung.
Eindringlich warnte er daher vor einseitigen und vor allem prinzipiellen Vorleistungen des Westens gegenüber Moskau: „Wir glaubten, eine Parkgebühr für lange Zeit durch eine hohe Pauschale entrichtet zu haben, und jetzt stellt sich heraus, daß eine Parkuhr da steht, in die wir immer wieder nachzahlen müssen, um nicht vom Parkplatz, genannt: ‚Entspannung’, verwiesen zu werden.“
4. Das westliche Bündnis als Garant der Freiheit
Der frühere Mitarbeiter von Alois Mertes und spätere Beigeordnete Generalsekretär der NATO für Politische Angelegenheiten, Martin Erdmann, hielt zur Rolle des transatlantischen Bündnisses treffend fest: „Alois Mertes hatte als Diplomat, Politiker und Staatsminister nie direkt mit der Allianz als Institution zu tun, er vertrat Bonn nie in den Gremien des Bündnisses. Dennoch war er ein glühender Anhänger der NATO, in dem Verständnis der Allianz als Instrument der Friedenserhaltung und Friedensgestaltung […]. Überhaupt sei die NATO zuvorderst nicht als militärisches Bündnis[,] sondern als politisches Instrument der Friedensgestaltung, das auch über militärische Mittel verfügt (Friedenserhaltung), zu betrachten, er sah die Allianz durch die Brille der Friedensethik“.
Der britische Historiker Timothy Garton Ash führte hierzu weiter aus „Er glaubte an Deutschland, an Europa und an den Westen.“ – und hob damit hervor, dass Mertes eine auf gemeinsamen Werten und gemeinsamen Freiheitsinteressen basierende Westbindung als maßgebliche Grundlage seiner Außenpolitik vertrat. Dies zog sich konsequent durch alle Bereiche seines außenpolitischen Denkens. Es betraf auch solche Bereiche wie die unteilbare Sicherheit innerhalb des nordatlantischen Bündnisses: Eine gemeinsam abgestimmte Bündnishaltung in der strategischen, in der eurostrategischen und in der konventionellen Verteidigung. Mertes stellte die auf gemeinsamen geistesgeschichtlichen Grundlagen stehende euro-atlantische Bündnispolitik dem Mitteleuropakonzept mancher Anhänger der „Neuen Ostpolitik“ scharf entgegen. Er vertrat dies ebenfalls in der CDU mit aller Entschlossenheit und sah dort vermutlich mehr als jeder andere die politischen Dimensionen hinter den abrüstungspolitischen Verhandlungsschritten.
Daher warnte er auch vor der Idee einer „Sicherheitspartnerschaft“ mit der Sowjetunion, welche die Bundesrepublik von der NATO weg in eine Äquidistanz treibe: „Denn diese semantische Gleichstellung suggeriert der Öffentlichkeit durch ein inhaltsschweres Wort die Gleichstellung unserer Sicherheitspartnerschaft im Atlantischen Bündnis mit unserem Verhältnis zur sowjetischen Weltmacht, deren expansive Außenpolitik, deren totalitäres System und deren wachsendes Militärpotential die westliche Allianz mit der amerikanischen Weltmacht überhaupt begründet. Der Weg von der verbalen Gleichbehandlung zur inhaltlichen Gleichbewertung ist nicht weit.“
Letztlich handelte es sich um eine Richtungsentscheidung, die auch mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes kaum an Relevanz verloren hat. Für Alois Mertes besaß die innere politische Stabilität der NATO höchste Priorität – sowohl in Form der Unterstützung des Kollektivitätsgedankens und der Geschlossenheit des Bündnisses als auch in der entschiedenen Ablehnung eines deutschen Eigenweges, also jeglichen Versuches, sich aus den NATO-Vereinbarungen schleichend herauszuwinden.
Dazu gehörte auch die entschiedene Ablehnung einer jeden Idee eines Europas „von Lissabon bis Wladiwostok“ oder eines „gemeinsamen Hauses Europa“, welche die USA bewusst oder unbewusst zugunsten Russlands herausdrängen wollte.
Und wie ging er mit den politischen Rückschlägen für die NATO und für die USA um, die er durchaus auch selbst in seiner Berufstätigkeit erlebte? 1975 ermutigte er angesichts des panikartigen Abzuges der Amerikaner aus Saigon, sich auf die gemeinsamen Werte, Interessen und Stärken des Westens zu konzentrieren. Dazu gehörte auch sein „Wehret den Anfängen!“, wenn er bereits Mitte der sechziger Jahre befürchtete, dass Fehlentscheidungen in Europa die Verlagerung des amerikanischen Interesses in den indo-pazifischen Raum beschleunigen könnten. Hier lagen dann seine Kernbefürchtungen vor langfristigen europäischen Nachteilen durch einen zu eng gefassten Nichtverbreitungsvertrag für Kernwaffen („Atomwaffensperrvertrag“), der eine zukünftige strategische Verteidigung Westeuropas gefährden könne.
5. Kausalität von Rüstung und Abrüstung – maßgebliche inhaltliche Grundlagen für die Christliche Demokratie
Der gesamten sicherheitspolitischen Konzeption von Alois Mertes lag die von ihm formulierte „Politische Kausalität der Rüstung“ zugrunde, welche für die Rüstungskontrollpolitik der Christlichen Demokratie stilbildend wurde. Die Dynamik des Rüstungswettlaufs ergebe sich aus der Dynamik des politischen Einflusswettlaufs, nicht umgekehrt. Dies hatte sicherlich viel damit zu tun, daß er ab Ende 1966 bis Ende 1971 im Auswärtigen Amt vor allem mit den Fragen des Gewaltverzichtes und der Non-Proliferation befasst war. In dieser Zeit entstanden inhaltliche Grundlagen, die für die inhaltliche Fundierung der Christlichen Demokratie maßgeblich prägend wurden: „Unfrieden und Unsicherheit in Europa gibt es nicht, weil es Soldaten, Waffen und Rüstungswettlauf gibt, sondern weil bestimmte Staaten bisher nicht bereit sind, ihre Interessenkonflikte ohne die Demonstration der Fähigkeit zur gewaltsamen Auseinandersetzung zu lösen; ja weil es noch Mächte gibt, die gerechte Offensivkriege u.U. für möglich halten, d.h. für legitim und führbar.“
Der Außenpolitiker konkretisierte diesen Gedanken mit Blick auf den bestehenden Zustand der internationalen Politik, ohne dabei jedoch auszuschließen, dass „auch von den Merkmalen der Rüstungen Kriegsgefahren ausgehen könnten“: Unsicherheit und Unfrieden gebe es „vor allem anderen, weil es einen Gegensatz der ideologischen Überzeugungen, der ethischen Maßstäbe und damit der politischen Ziele gibt, der dem Ost-West-Konflikt zugrundeliegt“.
Auf diesem Gedanken basierte auch jene Mahnung, die der Abgeordnete bei zukünftigen friedensethischen Debatten immer wieder äußern wird, nämlich die Forderung, nicht in erster Linie auf den „verantwortungsunfähigen Gegenstand Waffe“ zu schauen, sondern auf den dahinter stehenden politischen Willen. Nicht zuletzt mit Blick auf die innerkirchlichen Debatten war ihm daher wichtig, dass der Begriff des unkontrollierten, eigendynamischen „Rüstungswettlaufes“ letztlich grob irreführend sei.
Von der Grundannahme her, dass Waffen letztlich nur das Symptom tieferliegender politischer Spannungen seien, leitete Mertes eine rüstungskontroll- und sicherheitspolitische Betrachtungsweise im Lichte seiner Deutung der Moskauer Außenpolitik ab. Denn „die Perzeption der Partner, d.h. der Mithandelnden, auf die es ankommt“, sei „ein entscheidender Faktor“ für die Beurteilungsmaßstäbe der eigenen Politik. Der Rüstungskontrolldialog stellte daher für den Abgeordneten im vorliegenden Fall auch nur einen „Teilaspekt“ der Ost-West-Auseinandersetzung dar.
In einem an Bundeskanzler Helmut Schmidt 1979 gerichteten Brief versuchte der damalige Oppositionspolitiker, diesen gedanklichen Leitsatz in eine Handlungsempfehlung umzuformulieren. Es genüge keineswegs, „bei der Analyse der sowjetischen Rüstungsanstrengungen immer nur die beiden Faktoren ‚military capabilities’ (gut berechenbar) und ‚tactical intentions’ (schwer berechenbar) einander gegenüberzustellen“. Man unterliege darüber hinaus der Pflicht, „die politischen ‚strategic objectives’ ständig im Auge zu behalten und – defensiv oder offensiv – zu berücksichtigen“. Letztere sowie die ihnen zugrundeliegenden Kriterien und Perspektiven seien „durchaus transparent und berechenbar – stärker als die der USA heute“. Kurzum: „Die Sowjets schreiben und sagen, was sie erstreben; und sie meinen, was sie sagen. Man muß es allerdings zur Kenntnis nehmen wollen – und ernst nehmen.“
6. Rüstungskontrollverhandlungen im Spiegel der politischen Ziele Moskaus – der Handlungsrahmen für die Christliche Demokratie und für die deutsche Außenpolitik
Und in welchem Zusammenhang mit den Abrüstungs- und Rüstungskontrollverhandlungen standen nun nach Ansicht von Mertes die eigentlichen Ziele (also die „strategic objectives“) der Moskauer (Außen-)Politik sowie die dazugehörigen Maßstäbe? Die Gedanken des Abgeordneten wiesen in eine ähnliche Richtung wie jene Argumentation, mit der er von 1969/70 bis 1976 unablässig vor Verbalkompromissen bei völkerrechtlichen Abkommen gewarnt hatte. Nach seiner Überzeugung unterlagen sämtliche sicherheits- und verteidigungspolitischen Handlungen der östlichen Hegemonialmacht dem von ihr verfolgten „Führungsanspruch der Politik“.
Die politischen Ziele Moskaus sah CDU-Politiker in diesem Zusammenhang bestimmt durch eine Gemengelage an offensiver, die Weltrevolution anstrebender Ideologie („die von reinen Pragmatikern oft unterschätzt wird“) und einer mehr nationalrussischen „politische[n] Einfluß- und Kontrollexpansion“. Auf die konkreten Zeitumstände bezogen erklärte Mertes es für „müßig zu spekulieren“, welche der beiden Motivationen in der Politik des Kremls eine stärkere Wirkung entfalte: „Denn in der Praxis ergänzen sie sich [...] geradezu hervorragend.“
Zwei Faktoren beziehungsweise Maßstäbe, so der Abgeordnete weiter, seien diesen bestimmenden politischen Triebkräften untergeordnet, und zwar ein offensiver Sicherheitsbegriff sowie schließlich die Rüstungskontrollpolitik. Während die westliche Auffassung von Sicherheit in erster Linie defensiv und im engeren Sinne militärisch bestimmt sei, enthalte der entsprechende östliche Begriff neben defensiven Elemente auch offensive Elemente – und müsse in dem beschriebenen Rahmen einer umfassenden politischen Zielsetzung gesehen werden. Dazu gehöre immer auch die oben erwähnte „Einfluß- und Kontroll-Expansion“ Moskaus auf seine Satellitenstaaten sowie „wegen der offenen Deutschland-Frage vor allem auf die Bundesrepublik“.
Nach Ansicht von Mertes erschien es durchaus möglich, von einer defensiven Ausrichtung russischer Politik zur Bestandssicherung des eigenen Herrschaftsbereiches zu sprechen, jedoch müsse man dabei die inhärenten offensiven Konsequenzen zur Kenntnis nehmen. Die Kriegsmacht als „ausschlaggebende[s] Sicherheitsinstrument“ des Kremls erfülle demnach nicht einfach die klassischen Aufgaben der Territorialverteidigung, sondern diene darüber hinaus der Disziplinierung des eigenen Lagers sowie, für Bonn besonders wichtig, der politischen Einschüchterung und Bedrohung des Gegners.
Dementsprechend führte der Abgeordnete vor seiner Fraktion aus: „Ich halte die Russen selbst für so extrem risikofeindlich, daß ich, wenn ich von der Wahrscheinlichkeit sprechen soll, sagen muß: Ich glaube nicht, daß sie das tun. Aber das ist nicht die politische Kernfrage, meine Kollegen. Die politische Kernfrage ist die, daß die Sowjetunion ungeniert ein Interesse daran hat, [...] vor allem den Westeuropäern und den Deutschen klar zu machen, daß [...] sie offensiv Krieg führen kann. Das Können ist hier die Potentia, ist ja die Macht.“ Letztlich griff diese Deutung der außenpolitischen Funktion östlicher Rüstung also wiederum bekannte Gedanken aus der Diskussion um den Atomwaffensperrvertrag auf.
Was schließlich die Rüstungskontrollpolitik als nachgeordnetes Machtinstrument anbelangte, so konstatierte Mertes die „völlige Unterordnung“ dieses Politikfeldes unter die von ihm vermuteten (sicherheits-)politischen Absichten Moskaus. Abrüstungspolitische Ziele seien demnach für den östlichen Verhandlungspartner auch nicht per se erstrebenswert; vielmehr handle dieser als ein „aktualisierter Clausewitz“, nämlich unter dem Primat einer (im vorliegenden Fall sehr expansiven) Politik über Aufrüstung und Abrüstung.
Führt man sich die Kritik vor Augen, die Mertes während der ersten Hälfte der siebziger Jahre an der inhaltlichen Ausgestaltung der Ostverträge geübt hatte, so kann es kaum überraschen, daß der Politiker nun die Besorgnis äußerte, der Westen laufe erneut in die Gefahr, östliche Intentionen und Bewertungsmaßstäbe nicht ernst genug zu nehmen. Er sah sich mit einem „typisch amerikanischen Denkfehler einer latent utopischen, realitätsfernen Abrüstungsphilosophie“ konfrontiert. Diese zugespitzte Formulierung deutete nebenbei an, daß der Außenpolitiker immer noch nicht zu einem passionierten Anhänger der Washingtoner Détente-Politik aus den sechziger Jahren geworden war, selbst wenn das Thema Rüstungskontrolle ihn ab der zweiten Hälfte der siebziger Jahre zu einem regelmäßigen Gast in der amerikanischen Hauptstadt machen sollte.
Im einzelnen kritisierte Mertes: „Es wird nicht nur die generelle Möglichkeit einer Rüstungskontroll- und Abrüstungspolitik unter Ausklammerung der mit dem politischen Gesamtverständnis gegebenen Probleme unterstellt, sondern es wird auch fraglos angenommen, daß andere Seiten, mit denen man es dabei ausschlaggebend zu tun hat, ihr Denken und Handeln von den gleichen Vorstellungen leiten ließen.“ Folglich lautete einer der zahlreichen Aufsätze des Abgeordneten zu diesem Themengebiet, der auch im Bundeskanzleramt aufmerksam registriert wurde: „Sowjetische Kriterien der Sicherheit und Rüstungskontrolle – Konzeptionelle Gegensätze und Unterschiede zum Westen“.
Wie er bereits Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre in seinen Erörterungen zu Gewaltverzichtsabkommen mit Staaten des Ostblocks betont hatte, so hob Mertes ebenfalls im Zusammenhang mit der Rüstungskontrollpolitik hervor, daß trotz bestehender Meinungsunterschiede im Ost-West-Konflikt ein gewisses Maß an gegenseitiger Übereinstimmung in klar definierten Bereichen realisierbar sei. Mit anderen Worten: Abrüstungsgespräche mit dem Ziel tragfähiger, wenn auch begrenzter Ergebnisse erschienen dem Politiker nicht aussichtslos. Selbst wenn unter den gegebenen Umständen die Erfolgschancen nur schwer zu kalkulieren seien, müsse man versuchen, „bei gleicher, unverminderter Sicherheit für alle Beteiligten [...] die Ausmaße und die Kosten der militärischen Machtkonzentration [...] einer gegenseitigen und ausgewogenen Verminderung zu unterziehen“.
Mertes zeigte sich zuversichtlich, daß auch die östliche Hegemonialmacht „in Anbetracht ihrer bislang vernachlässigten zivilwirtschaftlichen Entwicklungserfordernisse“ prinzipiell ein Interesse an ausgeglichenen Militärreduzierungen haben werde, wenn der Westen ihr nur deutlich genug vor Augen führe, daß er einerseits asymmetrischen Abrüstungsvorschlägen zu seinen Lasten nicht zustimmen werde und andererseits bei einseitigen Aufrüstungsschritten zum „Nachziehen“ bereit sei. Letzteren Begriff formulierte Mertes, den später vielgebrauchten Ausdruck „Nachrüstung“ in abstrakter Form vorwegnehmend, bereits im Juni 1976.
Als Vorbedingung solcher Abrüstungsschritte galt es seiner Auffassung nach jedoch zu sichern, daß „zwischen beiden Seiten ein relatives Gleichgewicht des politischen Zusammenschlusses, der historischen Erfolgszuversicht und der militärischen Stärke“ bestehe. Mahnend fügte der Abgeordnete hinzu: „Einseitige Abstriche von diesem Gleichgewicht machen, soweit sie qualitativ von Belang sind, die gewalthafte Konfliktaustragung nicht weniger, sondern mehr wahrscheinlich, weil sie die den kriegerischen Willen zügelnden Faktoren schwächen.“ Was allerdings die Definition der Formulierung „qualitativ von Belang“ anging, so sollte diese sich allein schon während der kommenden Jahre als kompliziert genug erweisen.
Als „neorealistische oder machtpolitische Hypothese“ (so der Kölner Politikwissenschaftler Werner Link) wurde die abrüstungs- und sicherheitspolitische Konzeption von Alois Mertes später bezeichnet. In der Tat ging es dem Außenpolitiker darum, unter der Voraussetzung politischer und militärischer Absicherung zur Zusammenarbeit zu gelangen, wobei die Zusammenarbeit dann auch die Sicherheitspolitik in einem nüchtern kalkulierten Umfang einbeziehen sollte, also kooperative Sicherheitspolitik (oder konkreter: Rüstungssteuerung) auf Basis einer abwehrenden Sicherheitspolitik. Ebenfalls treffend wurde diese politische Auffassung des Parlamentariers in Kontrast gesetzt zu der „funktionalistische[n] Hypothese“, das heißt der Idee, durch Zusammenarbeit zur Sicherheit zu gelangen. Davon unabhängig sei an dieser Stelle nochmals hervorgehoben, daß der Begriff der „Realpolitik“ für Mertes nicht nur Rüstungsaspekte umfaßte, sondern auch die des politischen Willens sowie, nicht zuletzt, die des langfristig wirkenden Drängens nach Freiheit und Menschenwürde, so wie er es im geteilten Deutschland und in Polen zu erkennen glaubte. Nach seiner Überzeugung bestimmten diese universalen Werte auch das nationale Interesse. Treue zu den eigenen Idealen und Realismus mochten in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen, aber sie schlossen einander nicht aus. Das große rüstungskontrollpolitische Themengebiet bildete in erster Linie eine defensive Komponente seiner Konzeption, es war aber ebenfalls Bestandteil seines offensiven Willens zur Überwindung der Spaltung Deutschlands und Europas.
Zusammenfassend und vorausschauend wird man mit den Grundforderungen Ausgewogenheit, Beiderseitigkeit und Verifizierbarkeit die Maßstäbe umschreiben können, die Mertes zur Bewertung der großen außen- wie sicherheitspolitischen Herausforderungen ab der zweiten Hälfte der siebziger Jahre anzuwenden gedachte.
7. Christentum und Politik – der Christliche Demokrat Alois Mertes und die Kirchen
„Dr. Alois Mertes war ein Mensch mit vielen Begabungen und Fähigkeiten. Er hat sie nicht für sich behalten, ‚vergraben’ – wie die Heilige Schrift sagt –, sondern eingesetzt, mit ihnen ‚gewuchert’, zum Wohle der menschlichen Gemeinschaft. Die ‚Talente’, die er in den Dienst seiner Berufung stellte, haben reiche Frucht getragen.“ – so fasste Joseph Kardinal Höffner, der damalige Erzbischof von Köln, seine sehr persönliche Betrachtung über den Christen und Politiker Alois Mertes in Anlehnung an das Gleichnis aus dem Matthäus-Evangelium zusammen.
In zahllosen Gesprächen wirkte Mertes als Berater der Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, als Verbindungsmann zwischen katholischer Kirche und Auswärtigem Amt, als gegenüber dem Apostolischen Nuntius und den entsprechenden Stellen der Kurie auftretender Vertreter der CDU, als Verfasser von Zeitungsartikeln und Leserbriefen sowie als unermüdlicher Diskussionspartner auf evangelischen wie katholischen Kirchentagen.
Dies galt zunächst vor allem für die „Vatikanischen Ostpolitik“, als es um die Frage ging, ob und inwieweit der Heilige Stuhl die deutsche Teilung aus entspannungspolitischen Gründen völkerrechtlich anerkennen solle. Dies wollten die Deutsche Bischofskonferenz, das Zentralkomitee der deutschen Katholiken und Alois Mertes selbst, aber auch das Auswärtige Amt unter Bundesminister Hans-Dietrich Genscher - naheliegenderweise – unbedingt vermeiden.
Das Pontifikat von Papst Johannes Paul II. und das sich damit einstellende Zusammenspiel von Vatikan und Deutscher Bischofskonferenz in diesen politischen Fragen halfen, die deutschland- und sicherheitspolitischen Vorstellungen von Mertes zur Geltung zu bringen – nachdem Mertes‘ mit der Deutschen Bischofskonferenz und dem Auswärtigen Amt abgestimmtes Einwirken auf Apostolische Nuntiatur und Kurie zuvor zwar messbaren, aber nur eingeschränkten Erfolg verzeichnet hatte. Kurzum: Bis zur Wiedervereinigung wurde ebendiese völkerrechtliche Anerkennung der deutschen Teilung durch den Heiligen Stuhl erfolgreich vermieden.
Die Nachrüstungsdebatte um den westlichen Ausgleich für zuvor aufgestellte sowjetische Mittelstreckenraketen mit eurostrategischer Bedeutung forderte Alois Mertes erneut ebenfalls als Vertreter des politischen Katholizismus. Dabei war die hoch emotionale Debatte um die moralische Legitimität der Abschreckungsstrategie für ihn psychisch und physisch vermutlich nochmals fordernder.
Für Mertes, den „Politiker aus christlicher Verantwortung“ (so sein langjähriger Freund und Wegbegleiter Konrad Repgen) bestimmte das „christliche[...] Ethos“ die Grundlagen der Politik. Während der Nachrüstungsdebatte antwortete Mertes auf die Bürgerzuschrift eines Kritikers des NATO-Doppelbeschlusses: „In meinem Abgeordneten-Ausweis habe ich das Friedensgebet des Hl. Franziskus von Assisi, das sozusagen mein Programm ist.“ Dessen ungeachtet musste seiner Ansicht nach die konkrete Einzelhandlung des Politikers jeweils vor dem persönlichen Gewissen verantwortet werden.
In einem gemeinsam mit dem früheren (sozialdemokratischen) Verteidigungsminister Georg Leber verfassten Brief an die Amerikanische Bischofskonferenz erläuterte Alois Mertes: „Die politische Strategie muß vorrangig unter dem Gesichtspunkt der Kriegsverhütung moralisch bewertet werden. Die Güterabwägung lautet vereinfacht: Die geltende Strategie sichert mit der – losgelöst von Ziel und Wirkung unsittlichen – Androhung des Ersteinsatzes nuklearer Waffen den Frieden in Freiheit. Eine – losgelöst von Ziel und Wirkung sittliche – Strategie des Verzichts auf die Drohung mit Nuklearwaffen gefährdet den Frieden und unsere Freiheit.“ Alois Mertes schrieb Vertretern aus Kirche und Politik nicht vor, dass sie persönlich für sich eine moralische Entscheidung zugunsten der Nachrüstung treffen müssten – aber damals wie heute war seine Botschaft ebenfalls, dass Vertreter von Kirchen und Politik die NATO-Strategie ebenfalls nicht per se für unmoralisch erklären dürften. Er forderte den Mut zu dieser Differenzierung ein – und erhielt hierfür Zuspruch durch die Deutschen Bischofskonferenz.
So wenig Mertes die Autorität des kirchlichen Lehramtes in den theologischen Belangen anzweifelte, so deutlich kritisierte er manche von ihm als problematisch erachtete Äußerungen von Theologen zu politischen Fragen. Dabei empfand sich Alois Mertes als einen „mündigen Laien“ im Sinne der Pastoralkonstitution Gaudium et spes, der schädlich erachteten außen-, deutschland- und sicherheitspolitische Strömungen einzelnen kirchlicher Vertreter ggf. entgegentreten wollte und auch entgegentreten musste. Diese seien in Fragen von Politik und Verwaltung eben auch „voll irrtumsfähig“. Allerdings muss man hier auch betonen, dass er selbst seine mitunter kritischen Worte als konstruktiv-kritisch verstand – sie sollten die bischöfliche bzw. kirchliche Autorität nicht schwächen, sondern letztlich stützen. Auch heute scheinen in der Katholischen Kirche wie in der Evangelischen Kirche Menschen mit der Integrationskraft von Alois Mertes notwendig – Menschen, welche den Dialog in unterschiedliche (kirchen-)politische Richtungen antreiben und pflegen können, ohne der einen oder der anderen Richtung den Eindruck zu verleihen, ausgegrenzt zu werden. Der jüdische Gelehrte Ernst Ludwig Ehrlich stellte daher in Anlehnung an den Titel von Willy Brandts Memoiren („Links und frei“) fest, die ungeschriebenen Erinnerungen von Alois Mertes hätten unter dem Leitsatz „Katholisch und frei“ stehen können.
8. Innenarchitekt der außenpolitischen Wiederannäherungen von CDU/CSU und FDP
Als Seiteneinsteiger fand Alois Mertes den Weg in die Politik, zunächst als Bevollmächtigter des Landes Rheinland-Pfalz beim Bund unter dem Ministerpräsidenten Helmut Kohl (von Januar bis Oktober 1972), daran anschließend als Mitglied des Deutschen Bundestages. Schon zuvor hatte er Beziehungen zu Unionspolitikern durch seine beratende Tätigkeit insbesondere für Rainer Barzel und Karl Theodor Freiherr von und zu Guttenberg unterhalten. Dabei ging es ab 1970 um grundsätzliche Aspekte der umstrittenen Ostverträge. Der Diplomat hatte den Beginn der Moskauer Verhandlungen Ende 1969 auf Basis der aus der Großen Koalition stammenden Vertragsentwürfe selbst begleitet, war jedoch von diesen Aufgaben entbunden worden, als das Bundeskanzleramt unter Brandt und Bahr die Gesprächsführung in nahezu exklusiver Form an sich gezogen hatte.
Aus den ausführlichen Aufzeichnungen und Vermerken im Nachlass Mertes von Januar bis Mai 1972 lässt sich sein wesentlicher Einfluss auf die sich zu diesem Zeitpunkt in ihrer entscheidenden Phase befindenden Verhandlungen um die Ratifizierung der Ostverträge erkennen. Insbesondere die wichtigen Passagen der Gemeinsamen Entschließung vom 17. Mai 1972 entsprechen seinen expliziten Forderungen, so zum Beispiel der Begriff Modus vivendi, mit dem der offene Charakter der Deutschen Frage und die Nicht-Präjudizierung eines Friedensvertrages verbindlich dokumentiert werden sollten.
Wachsendes Misstrauen in die Regierung Brandt ließ Mertes unmittelbar vor der Ratifizierung verstärkt Abstand zu den Ostverträgen nehmen. Es überrascht nicht, dass die zweite Jahreshälfte 1972 und das Jahr 1973 durch eine (auch bisweilen im Deutschen Bundestag deutlich zu erkennen gegebene) Unterstützung für Franz Josef Strauß und dessen außenpolitische Positionen gekennzeichnet waren. Die galt aber ebenfalls für das Pacta sunt servanda, das der CSU-Vorsitzende propagierte: Auch für die einmal ratifizierten Ostverträge musste Vertragstreue gelten.
Der Oppositionspolitiker Mertes erkannte gleichwohl die Notwendigkeit der Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit der Regierung, wenn die Vorstellungen der Union Gehör finden sollten. Hier bildete das Jahr 1974 eine wichtige Wegmarke: Einerseits entfiel nach Ratifizierung der Ostverträge erheblicher Konfliktstoff. Andererseits bot der personelle Wechsel an der Spitze von Bundeskanzleramt und Auswärtigem Amt neue Perspektiven der Zusammenarbeit von Opposition und Regierung. Dies galt insbesondere für die FDP, vor allem den Bundesminister des Auswärtigen, Hans-Dietrich Genscher, dessen deutschlandpolitische Prinzipienfestigkeit und Dialogbereitschaft Alois Mertes früh kennen und schätzen lernte. Ab 1974 entwickelte sich eine von persönlichem Vertrauen geprägte inhaltliche Zusammenarbeit zwischen beiden Politikern.
Gerade Mertes‘ Schwerpunktthemen zeigten indirekt, dass sich außenpolitische Fragen bereits Mitte der siebziger Jahre zu weit mehr als einem Haarriss in der sozial-liberalen Koalition entwickelt hatten. Die sich am Horizont bald abzeichnende Debatte um die „Nachrüstung“ stand im Zusammenhang mit tiefgreifenden Meinungsunterschieden zwischen SPD und FDP zu den laufenden Verhandlungen über konventionelle Rüstung (MBFR) und natürlich ebenfalls zum Dauerthema Deutschlandpolitik.
Natürlich wurde der eigentliche operative Prozess des Koalitionswechsels im Spätsommer / Frühherbst 1982 nicht durch Alois Mertes, sondern durch die politischen Spitzen in Bonn vollzogen. Aber die folgende Koalition von CDU/CSU und FDP konnte ihre rasche Zusammenstellung und ihre Stabilität auf eine lange und nachhaltige thematische Wiederannährung in der Außen- und Deutschlandpolitik gründen.
9. Erfolg und Ernüchterung: Der Regierungswechsel von 1982
Während es Alois Mertes als Mitglied der Oppositionsfraktion möglich gewesen war, durch seine umfangreiche publizistische Tätigkeit und seine guten Beziehungen zur Bundesregierung und zu anderen Verantwortungsträgern ungewöhnlich vielfältig auf die außenpolitischen Debatten Einfluss zu nehmen, ist festzustellen, dass er diese Position nach dem Regierungswechsel von 1982 nicht weiter ausbauen konnte. Bald fand er sich zwischen nach vorne drängenden jungen Außenpolitikern in der Union, den Vertriebenenverbänden, dem Koalitionspartner FDP und einer ambitionierten CSU-Führung wieder, ohne jemals Politiker mit eigener Hausmacht gewesen zu sein. Sein Handlungsspielraum als Staatsminister im Auswärtigen Amt war schon allein deshalb beschränkt, weil er nicht in die Hierarchie des Hauses eingebunden war und nicht über die Weisungsvollmacht der beamteten Staatssekretäre verfügte.
Dessen ungeachtet versuchte Mertes, bis über die Grenzen seiner körperlichen Kräfte hinaus, den Anforderungen seiner Tätigkeit gerecht zu werden. Am 16. Juni 1985 verstarb er an den Folgen eines schweren Schlaganfalles, der ihn vier Tage zuvor während einer Podiumsdiskussion ereilt hatte. Sein früher Tod löste nicht nur im eigenen Lager, sondern auch beim politischen Gegner große Betroffenheit aus.
10. Leitlinien seines Handelns
Rückblickend fällt auf, dass Alois Mertes trotz seiner wichtigen Rolle als außenpolitischer Experte in den Reihen von CDU und CSU eher ein „großer Solist“ blieb als ein Parteipolitiker. Formal maßgebliche politische Ämter hatte er nie inne. Gleichwohl (oder gerade deswegen) gelang es ihm durch seine guten Beziehungen sowohl zu führenden Vertretern der CDU, der er seit 1961 angehörte, als auch zu solchen der CSU und FDP sowie zu einzelnen Persönlichkeiten der SPD in außenpolitischen Diskussionen vermittelnd zu wirken. Ähnliches gilt für seine Kontakte, die er mit polnischen oppositionellen Gesprächspartnern, die ab 1989 im demokratisch gewordenen Polen eine bedeutende politische Rolle spielen sollten, und Vertriebenenverbänden unterhielt sowie für sein Interesse an einer intensiven Zusammenarbeit mit Vertretern des Judentums.
Was hat die Dialogfähigkeit von Alois Mertes ausgemacht, der sich noch am Höhepunkt der Nachrüstungsdiskussion tapfer Fernsehdebatten, Kirchentagen und auch einfach der „Straße“ stellte? Führende Medien sollten bei ihren Nachrufen eine besondere Fähigkeit zur liebevollen Zuwendung hervorheben. Als „Personnage chaleureux“ umschrieb ihn Le Monde, und als „herzensguter Mensch“ wurde er in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gesehen. Es war der Kieler SPD-Abgeordnete Norbert Gansel, der im Deutschen Bundestag dazu in einer noblen Geste erläuterte: „Ich denke jetzt auch an einen Mann, der sich im auswärtigen [sic] Dienst als Diplomat und als Parlamentarier verzehrt hat, so muß man wohl sagen, und den wir auf der Regierungsbank heute alle sehr vermissen: den Kollegen Mertes. [...] Mit ihm haben wir in politischer Gegnerschaft oft die Klinge gekreuzt, aber wir haben ihn in seiner Kollegialität und in seiner persönlichen Freundlichkeit alle sehr geschätzt.“
Michael Thielen, Mitarbeiter und späterer Generalsekretär der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V., umschrieb Person und Persönlichkeit von Alois Mertes mit den Worten: „Wir alle in seiner Umgebung waren natürlich beindruckt von seinem Wissen und seiner Klugheit, von seinem Einsatz und von seiner natürlichen Autorität. Aber geprägt hat uns alle besonders, dass Alois Mertes sich den Menschen in seiner Nähe und den Aufgaben, die ihm wichtig waren, liebevoll zuwandte.“
Rückblickend darf man die beharrlich auf eine Verwirklichung des freien Selbstbestimmungsrechtes für Deutschland und ganz Europa drängende Außenpolitik des Diplomaten und Politikers als ein Dokument ungebrochener und letztlich erfüllter Hoffnung auffassen. Mertes selbst formulierte 1983 gegenüber dem Mainzer Staatsrechtslehrer Eckart Klein: „Der Vorbehalt der politischen Erreichbarkeit lastet natürlich auch auf dem verbindlichen politischen Ziel der Wiedervereinigung Deutschlands überhaupt. Ich will dieses Ziel aber erreichen, das gebietet mir nicht nur die Verfassungstreue, sondern mein Gewissen als Deutscher, als Demokrat, als Christ.“