Bürgergesellschaft. Aktive Demokratie
Ich wünschte, ein Bürger zu sein
Plädoyer für eine aktive Bürgergesellschaft
Sie sei „eine süße Utopie", schreibt der Politikwissenschaftler Franz Walter über die Bürgergesellschaft. Zum „Gassenhauer erhabener Fest- und Feiertagsansprachen" sei sie verkommen. In der Tat ist die Idee der Bürgergesellschaft gerade in wirtschaftlichen Krisenzeiten in a Her Munde. Aber sie muss mehr sein als ein gelegentlicher schöngeistiger Appell an Politik und Gesellschaft. Und dass der Ruf nach ihr nicht nachlässt, beweist, dass in der gegenwärtigen Situation wesentlich mehr notwendig ist als nur oberflächliche Korrekturen und halbherzige Reformen.
Nein,die Bürgergesellschaftist keine „süße Utopie". Sie ist ebenso wenig die schnell wirkende Arznei, die mit einem kurzfristigen Krisenmanagement den Reformstau auflöst und vordergründige Probleme beseitigt. Sie ist vielmehr eine langfristige politische Aufgabe und Notwendigkeit. Sie ist eine wichtige Voraussetzung, um Fehlentwicklungen des Sozialstaats zu beheben und um die Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft zu bestehen: Wenn sich Deutschland unter den Bedingungen der Globalisierung, aber auch unter den Bedingungen eines tiefgreifend veränderten Arbeits- und Erwerbslebens im internationalen Wettbewerb behaupten will, ist ein nachhaltiger Bewusstseinswandel unumgänglich.
Erforderlich ist eine tiefgreifende Diskussion im Geiste der Gründer der Bundesrepublik Deutschland. Wir brauchen ein neues Modell für die Politik, das die zugewachsenen und verdeckten Fundamente eines Staatsverständnisses wieder freilegt, in dem die Freiheit, die Eigenverantwortung und die Subsidiarität wieder im Mittelpunkt stehen.
Eine Art „Masterplan", ein nagelneues Konzept ist dafür nicht notwendig, und der „Ruf auf die Barrikaden" (Baring) ist leichtfertig. Denn die Bauanleitung für dieses Staats- und Gesellschaftsverständnis ist bereits vorhanden. Sie liegt in unserem Grundgesetz begründet.
Nicht das Grundgesetz ist Ursache dafür, dass der Sozialstaat überfrachtet ist, dass der Staat sich bei der Wahrnehmung seiner Aufgaben verzettelt und seine traditionellen Kernaufgaben nicht mehr wahrnehmen kann. Verantwortlich ist ein Staat, der sich im Laufe der Jahre Aufgaben angeeignet hat, die weit über den Verfassungsinhalt hinaus gehen. Verantwortlich ist ein Staat, der sich selbst in die babylonische Gefangenschaft des Daseinsvorsorgestaates begeben hat. Es gilt das austarierte Gleichgewicht von Solidarität und Subsidiarität, auf das die Mütter und Väter der Verfassung so viel Wert gelegt haben, wiederherzustellen.
Neben unserem Grundgesetz ist unser christliches Menschenbild der Bauplan für eine moderne Bürgergesellschaft. Bei beiden steht die menschliche Person als Ursprung, Träger und Ziel allen gesellschaftlichen Handelns im Mittelpunkt. Beide setzen den freien und mündigen Bürger voraus, der selbstbestimmt und eigenverantwortlich handelt. Deshalb nimmt die Bürgergesellschaft den Menschen als soziales Wesen ernst und fördert ihn. Sie widersetzt sich damit einem Gesellschaftsbild, das die Beliebigkeit des „anything goes" als Ausdruck von Freiheit missversteht. Sie fordert Werte und Tugenden ein.
Aus der unveräußerlichen Menschenwürde und derGottesebenbildlich-keit des Menschen leiten sich daneben die ethischen Prinzipien der Subsidiarität und der Solidarität ab. Der Respekt vor dem Individuum und seiner Eigenverantwortlichkeit, aber auch das Interesse der gesamten Gesellschaft gebieten, dass eine menschenwürdige Gesellschaft in ihrer Strukturvon unten nach oben aufgebaut ist und nicht umgekehrt.
Was der Einzelne, was die Familie oder die lokale Gemeinschaft in ihrem Nahbereich leisten kann, darf nicht überregelt, dekretiert und normiert werden. Ein breiter Rahmen für die freie Entfaltung vor Ort muss gewahrt bleiben. Ein Rahmen, in den erst dann mit Hilfe zur Selbsthilfe eingegriffen werden darf, wenn die kleinere Einheit mit ihrer Aufgabe überfordert ist. Bürgergesellschaft bedeutet nichts anderes als die konsequente Erneuerung und Stärkung des Subsidiaritätsprinzips.
Zur richtig verstandenen Subsidiarität gehört Solidarität Weil nur so Vielfalt mit Einheit vereinbar wird. Das Prinzip der Solidarität ergibt sich daraus, dass der Mensch kein isoliertes Individuum ist, sondern stets auch Mitmensch. Das setzt die Anerkennung der Individualität und der Freiheit des anderen voraus - also nicht nur passives Abwarten, sondern die aktive Übernahme von Verantwortung für den Nächsten und für das Gemeinwesen. DolfSternberger hat das mit einem Buchtitel passend zum Ausdruck gebracht: „Ich wünschte, ein Bürger zu sein" - ein Titel der bewusst im Konjunktiv gehalten war. Weil er verdeutlichen sollte, dass es Hingabe und Mut erfordert, ein verantwortungsvoller Bürger zu sein.
Ohne verantwortungsvolles Handeln, vor allem aber ohne einen Bewusstseinswandel sind umfassende Reformen, die unser Land zukunftsfähiger machen, nicht in Gang zu setzen. Notwendig ist ein anderes Verständnis von den Aufgaben des Staates und der Bürger. Und das umfasst nicht nur den Abbau von Anspruchsdenken bei den Bürgerinnen und Bürgern. Auch die politisch Handelnden haben allen Anlass zur Selbstkritik.
Dass der Staat bis heute als „Wirtschaftsplaner, Arbeitsbeschaffer und Arbeitsplatzgarant" verstanden wird, dass von ihm die Sicherung der Einkommen, der Schutz vor Krankheit und die Sicherheit im Alter erwartet wird, das ist auch auf die politischen Versprechen der Parteien und der von ihnen getragenen Regierungen zurückzuführen. Nur zu gern haben sie in ihren Wahl- und Grundsatzprogrammen die Illusion genährt, die Ansprüche an den Staat seien immer weiter zu steigern. Da mag es kaum verwundern, wenn mehr als 90 Prozent der Bevölkerung die Zuständigkeit des Staates in Fragen der Einkommenssicherung befürworten, aber nur vier Prozent die zu hohe Staatsverschuldung als gravierendes Problem begreifen.
Dazu kommt, dass zwei Drittel der heute lebenden Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg geboren wurden und die Gründungsgeschichte der Bundesrepublik nicht mehr aus eigenem Erleben kennen. Für sie ist ein hoher Lebensstandard glücklicherweise selbstverständlich. Aber das bedeutet leider auch, dass bei ihnen das Bewusstsein für die Brüchigkeit menschlicher Lebensverhältnisse und für die Endlichkeit konjunktureller Aufschwungphasen schwach ausgeprägt ist.
Zunächst ist die Einsicht notwendig, dass für die Folgen von Fehlentwicklungen immer der Bürger oder seine Nachkommen einstehen müssen. Eine Erkenntnis, die zum aktiven Handeln der Bürgerinnen und Bürger führen muss. Denn die Bürgergesellschaft wird „süße Utopie" sein, wenn der Freiheitsraum nicht aktiv durch diejenigen erkämpft wird, die den Staat bilden: durch seine Bürgerinnen und Bürger. Aus eigenem Antrieb wird der Staat nichts von seiner Macht abgeben. Wer die Bürgergesellschaft nicht einfordert und selbst gestaltet, der riskiert, dass diese Idee dazu missbraucht wird, lediglich für bislang staatliche Aufgaben private Finanzierungsquellen zu suchen, weil der Staat über keine Mittel mehr verfügt.
Im Übrigen bedeutet das auch, dass die große Bereitschaft zu ehrenamtlichem Einsatz in Vereinen, Verbänden und Kirchen stärker als bisher auch als politisches Potential gesehen werden muss. Vorbehalte gegenüber politischem Denken und Handeln müssen abgebaut, Vertrauen muss aufgebaut werden. Eine Aufgabe, vor der nicht zuletzt die großen Volksparteien stehen.
„Süße Utopie" bleibt die Bürgergesellschaft aber auch, wenn sich die naive Erwartung durchsetzt, ein neues Verantwortungsgefühl für das „Gemeinwohl" stelle sich nur durch Einsicht und durch eine „unsichtbare Hand" her. Die Menschen werden sich nur dann für die Bürgergesellschaft begeistern, wenn ihnen deutlich ist, wie sehr sie damit in ihrem eigenen Interesse handeln, und wenn sie Rahmenbedingungen vorfinden, die ihnen bürgerschaftliches Engagement ermöglichen. Dazu gehört, dass wir begreifen, dass Steuerpolitik nicht nur Finanz-, sondern auch Gesellschaftspolitik ist. Immer höhere Steuern fressen die Freiheit auf. Und dazu gehören auch eine Vereinfachung des Steuersystems und der entschiedene Abbau von Bürokratie.
Das heißt, dass der Weg in die Bürgergesellschaft von beiden Seiten aus gegangen werden muss. Die Bürger müssen ihre Verantwortung wahrnehmen und einfordern. Der Staat muss ordnungspolitische Anreize schaffen und bei Bildung und Erziehung neue politische Ansätze verfolgen, die Gemeinsinn und soziales Engagement fördern. Die Bürgergesellschaft braucht starke Familien, die über die materiellen und ideellen Voraussetzungen für bürgerschaftliche Verantwortung verfügen. Und sie braucht starke Kommunen, die wieder attraktive Organe der Selbstverwaltung sind; Kommunen, die nicht durch Aufgaben des Bundes und der Länder überlastet werden. Daher ist die Bürgergesellschaft vor allem ein politisches Programm. Es ist so, wie es Ralf Dahrendorf festgestellt hat: „Die Bürgergesellschaft ist weder Anhängsel des Staates noch Ersatzstaat." Sie ist die erste große Generationenaufgabe des 21. Jahrhunderts. Konkret bedeutet das, dass sich der Staat auf seine traditionellen Kernaufgaben konzentriert. Er muss Freiheit auf der Basis des Rechts ermöglichen. Er muss die äußere und innere Sicherheit, die öffentliche Ordnung und die Rechtsstaatlichkeit gewährleisten. Er muss Rahmenbedingungen schaffen, in denen sich Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur und Bildung frei entfalten können. Er darf Verteilungsgerechtigkeit nicht wichtiger nehmen als Chancengerechtigkeit.
Zur Generationenaufgabe „Bürgergesellschaft" gehört auch die Revitali-sierung des Föderalismus. Nicht nur, weil eine klare föderale Aufgabenverteilung zwischen Bund, Ländern und Kommunen die Voraussetzung für einen starken Staat ist, der sich auf den verschiedenen Ebenen effizient und zielgerichtet auf seine Aufgaben konzentrieren kann. Die konsequente Anwendung des Subsidiaritäts-prinzips in einem bürgernahen Bundesstaat ist zugleich die unverzichtbare Zukunftsstrategie für die Gestaltung des vereinigten Europa. In einer vertieften Europäischen Union ist die Stärkung der Bürgergesellschaft längst keine alleinige deutsche Angelegenheit mehr. Im Übrigen ist der neugierige Blick über die Grenzen Deutschlands hinaus-auf der Suche nach funktionierenden Vorbildern bürgergesellschaftlichen Engagements -mehr als wertvoll.
Was ist notwendig, damit die ßürgergesellschaft nicht lediglich zum „Gassenhauer in Sonntagsreden" wird? Welche politische Kraft hat bessere Perspektiven, diese Aufgabe zu bewältigen als andere? Mut und Entschlossenheit im Sinne einer „Verantwortung zur Veränderung" ist notwendig: Nicht nur angesichts der herrschenden Haushaltsund Konjunkturlage, sondern auch im Interesse der kommenden Generationen!
Notwendig ist, dass sich die christlich-demokratische Bewegung noch deutlicher auf ihre Stärken besinnt: Alle zentralen sozialpolitischen Reformanstöße seit der Gründung der Bundesrepublik sind von ihr ausgegangen. Sie hat die kreative Kraft zur Veränderung und zur Durchsetzung von Zukunftsideen.
Notwendig ist schließlich Nachhaltigkeit: Nicht kurzlebige Initiativen, sondern langfristiges „Bohren dicker Bretter" bringt die Bürgergesellschaft voran. Ein Grund dafür, warum sich die Konrad-Adenauer-Stiftung als „Agent für den Wandel" noch stärker als bisher mit dem „Projekt Bürgergesellschaft" befassen wird.
Mangeln sollte es uns schließlich auch nicht an Hoffnung und Zuversicht. Gründe dafür gibt es genug: Unsere Eltern und Großeltern haben nach dem Krieg unser Land wieder aufgebaut, wir haben die Einheit Deutschlands in Freiheit vollendet. Beweise für Gemeinsinn und Tatkraft, an die wir anknüpfen können und müssen!
Themen
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