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Engagiert Euch!

Interview mit Prof. Dr. Bernhard Vogel

Ein Interview mit Prof. Dr. Bernhard Vogel, Minister­präsident a. D.­und­ Ehrenvorsitzender­ der Konrad-Adenauer-Stiftung, ­anlässlich ­seines­ 90. ­Geburtstages, ­geführt­ im­ Dezember­ 2022­ in­ Speyer

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Maja Eib und Philipp Lerch: Herzliche Glück- und Segenswünsche zu Ihrem 90. Geburtstag, lieber Herr Prof. Dr. Vogel! Wie fühlen Sie sich und blicken Sie in diesen Tagen eigentlich mehr zurück oder eher nach vorne?

Bernhard Vogel: Ich habe Grund, dankbar zu sein, dass es mir trotz meiner 90 Jahre noch immer relativ ordentlich geht. Natürlich blickt man an einem solchen Tag zurück und macht sich über das, was man erlebt hat, seine Gedanken. Aber ich versuche, auch nach vorne zu schauen – und den Menschen, die heute in der Verantwortung sind oder der dritten Generation nach mir, Mut zu machen. Sie werden mit den Herausforderungen von heute, wenn sie zupacken, genauso fertig werden wie wir versucht haben, mit den Herausforderungen unserer Zeit fertig zu werden.

 

Maja Eib und Philipp Lerch: Ihr Lebensweg hat Sie von Göttingen nach Speyer geführt – über Lebensmittelpunkte und Orte des Wirkens wie Gießen, München, Heidelberg, Mainz, Bonn, Erfurt, Berlin. Das Heimatverständnis der Menschen ist so vielseitig wie der Mensch an sich. Es heißt, Heimat könne man sehen, spüren, fühlen, riechen, schmecken, verändern, aufgeben, wiederfinden, beleben, kultivieren. An seinem Geburts- oder Wohnort, im Glauben, in der Familie, in einem Verein oder sogar einer Partei. Wo und wie haben Sie in Ihren 90 Lebensjahren Heimat empfunden – und was bedeutet Ihnen Heimat heute?

Bernhard Vogel: Für mich ist Heimat dort, wo man die Leute kennt und die Leute einen kennen, wo man sich zuhause fühlt, wo man verwurzelt ist. Mein in der Tat relativ bewegter Lebensweg hat dazu geführt, dass ich heute nicht nur Speyer und die Pfalz als Heimat empfinde, sondern ebenso Erfurt und Thüringen – und dass ich meine Kindheit und Jugend in Gießen verbracht habe, einer Stadt, die meinen Münchner Eltern zeitlebens fremd geblieben ist, für mich aber der Ort meiner ersten prägenden Freundschaften, die ich bis heute nicht vergessen habe, geblieben ist.

 

Maja Eib: Sehr wertschätzend sprechen Sie bis heute von den Menschen und ihren Leistungen vor allem im Wiederaufbau und Transformationsprozess nach der Friedlichen Revolution. In Ihrer Dankes-Rede zur Vergabe des Point Alpha Preises 2022 sagten Sie „Ich bin erfreut, aber beschämt im Vergleich zu den anderen Preisträgern. Die Wiedererrichtung Thüringens ist nicht mein Verdienst. Das waren die Menschen, die aus dem Stand Aufgaben übernehmen mussten, von denen sie vorher keine Ahnung hatten.“ Können Sie für uns beschreiben, was diese Menschen, die ja auch zu Ihren Wegbegleitern und Freunden wurden, ausmachten? Wie Sie sie erlebt, aber wie Sie mit Ihnen auch gemeinsam Thüringen zu dem gemacht haben, was es heute ist – ein blühendes Land mit großem Potenzial.

Bernhard Vogel: Wir sollten nicht vergessen, dass in Westdeutschland im Jahr 1945 nur 12 Jahre Nationalsozialismus hinter uns lagen; dass der Parlamentarische Rat das Grundgesetz erarbeitet hat und dass sich in den ersten Bundesregierungen wie auch in vielen Landesregierungen Frauen und Männer engagiert haben, die schon zuvor, in der Weimarer Republik als Abgeordnete oder als Ministerinnen oder Minister politische Erfahrung gesammelt hatten. Ganz anders stellte es sich in den Ländern Ostdeutschlands dar, wo 1989 niemand mehr bereits zuvor einem frei gewählten Parlament oder einer Regierung angehört hatte beziehungsweise als Landrätin oder Landrat, als Bürgermeisterin oder Bürgermeister, als Kommunalpolitikerin oder Kommunalpolitiker tätig war. Und deswegen ist es das ungewöhnliche Verdienst derer, die ohne jede Erfahrung nach 1989 angepackt haben, Aufgaben übernommen haben, auf die sie weder vorbereitet waren, noch deren Pflichten sie im Einzelnen kannten und sich in diesen Ämtern dennoch bewährt haben – nicht alle, aber doch die meisten. Das gilt für die Ministerinnen und Minister meiner Kabinette, das gilt für die Landrätinnen und Landräte, das gilt für die Oberbürgermeisterinnen und Oberbürgermeister und das gilt für viele Abgeordnete im Deutschen Bundestag, in den Landtagen und in den kommunalen Gremien der fünf ostdeutschen Länder.

 

Philipp Lerch: Sie sprechen von „Ländern Ostdeutschlands“ oder „ostdeutschen Ländern“. Was antworten und raten Sie Menschen, die noch heute, über 30 Jahre nach der Vollendung der Deutschen Einheit, von „alten“ und „neuen Bundesländern“ sprechen?

Bernhard Vogel: Denen antworte ich erstens, dass die Länder nicht Sache des Bundes, sondern der Bund Sache der Länder ist und dass deswegen der Begriff „Bundesländer“ im Grundgesetz zurecht nicht vorkommt. Und zweitens, dass die neuen Länder die Bindestrich-Länder sind, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden sind; Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, während die ostdeutschen Länder zum Teil eine jahrhundertealte Tradition haben. Thüringen war schon im 5. Jahrhundert ein Königreich und Sachsen ist ebenfalls ein klassisches altes Land. Deswegen spreche ich ungern von „neuen Ländern“ und rate allenfalls zur Unterscheidung von „jungen Ländern“.

 

Maja Eib und Philipp Lerch: Sie waren von 1989 bis 1993 und von 2003 bis 2009 Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung und sind seitdem unser Ehrenvorsitzender. Wie blicken Sie in den 20er Jahren des 21. Jahrhunderts auf die Bedeutung und das Wirken der Politischen Stiftungen?

Bernhard Vogel: Es ist eines der positiven Ergebnisse unserer Vergangenheit, dass wir den Mut hatten, Politische Stiftungen zu schaffen, die bestimmten Parteien zwar nahestehen, aber selbstständig und unabhängig tätig sind. Die Politischen Stiftungen können einen Beitrag dazu leisten, dass uns die Demokratie auf Dauer gelingt und dass sie nicht wie die Weimarer Republik eines Tages scheitert. Aus diesem Grund bin ich ein nachdrücklicher Befürworter der Arbeit der Politischen Stiftungen und ein nachdrücklicher Befürworter nicht nur ihres Engagements in Deutschland, sondern auch im Ausland.

 

Maja Eib: Und worauf sollten wir Ihres Erachtens gerade bei unserer Politischen Bildung im Inland besonders achten?

Bernhard Vogel: Ich glaube, so wichtig die Arbeit der Konrad-Adenauer-Stiftung und der anderen Politischen Stiftungen im Ausland ist, insbesondere in den europäischen Ländern, so unverzichtbar ist ihre Arbeit in Deutschland, schon deshalb, weil sie die zentrale Voraussetzung unserer Arbeit im Ausland bleibt. Entscheidend ist, dass wir in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland eine Bildungsarbeit leisten, die erfolgreich dafür wirbt, dass sich die Menschen für unsere demokratische Ordnung engagieren. Viel zu viele Menschen meinen, die Demokratie lebe von selbst. Nein, sie lebt nur von Engagement, von Frauen und Männern, die sich in ihr und die sich für sie engagieren. Dieses Engagement zu wecken ist die zentrale Aufgabe unserer Politischen Bildungsforen in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland.

 

Maja Eib: Ihnen ist es als Landesvorsitzender der CDU Thüringen gelungen, vielen Menschen Mut zu machen, politische Verantwortung zu übernehmen, in dem Sie auch selber nach dem Motto „Erst das Land, dann die Partei, dann die Person“ gelebt haben. Mit Blick auf die heute angespannte gesellschaftspolitische Situation in Thüringen und der großen Herausforderung, Menschen zu finden, die vor allem auch an der kommunalpolitischen Basis Verantwortung in ehrenamtlichen Mandaten übernehmen, stellen wir uns immer wieder die Frage: Wie kann es gelingen, mehr Menschen für politisches Engagement zu begeistern und Verantwortung auch in Form von Mandaten zu übernehmen?

Bernhard Vogel: Indem wir frühzeitig beginnen, Verantwortung zu wecken und deutlich zu machen, dass man in unserer Ordnung nicht nur gut leben kann, sondern dass die Voraussetzung dafür ist, dass man sich für diese Ordnung engagiert. Erfreulicherweise ist die Bereitschaft, Ehrenämter zu übernehmen, in Deutschland relativ hoch entwickelt. Die Bereitschaft, politischen Parteien beizutreten scheint dagegen weniger deutlich ausgeprägt, ist aber eine notwendige Voraussetzung für die Stabilität unserer Demokratie. Und deswegen müssen wir sehr darauf achten, dass der sehr schlechte Ruf von politischen Parteien abgebaut wird und dass die Parteien selbst etwas dafür tun müssen, um vor allem für junge Mitglieder attraktiver zu werden.

 

Maja Eib: Wie könnte dies Ihres Erachtens, vielleicht auch mit Hilfe Politischer Stiftungen, gelingen?

Bernhard Vogel: Politische Stiftungen können hier eine vermittelnde Rolle einnehmen und sowohl auf die Bürgerinnen und Bürger zugehen als auch ihren Einfluss auf Parteien ausüben. Letzten Endes aber müssen die Parteien selbst deutlich machen, dass sie in einem demokratischen Gemeinwesen eine dienende und nicht eine herrschende Funktion haben. Und dass zu dieser dienenden Funktion gehört, dass die Partei, der man beitritt, für die man sich engagiert und die man wählt, nicht nur ein eigenes Profil hat, sondern auch überzeugende Repräsentantinnen und Repräsentanten.

 

Maja Eib und Philipp Lerch: Besonderes Augenmerk richten Sie regelmäßig und in besonderer Weise auf die Jugend. Haben Sie eine persönliche Botschaft an „die Jugend“? Welchen besonderen Rat oder Wunsch würden Sie heute, 2022, mit 90 Jahren, jungen Menschen in Rheinland-Pfalz, Thüringen, Deutschland und Europa mit auf ihren Lebensweg geben?

Bernhard Vogel: Mein Rat ist: Engagiert Euch! Steht nicht mit herabhängenden Mundwinkeln an der Seite und bejammert die Schlechtigkeit der Verhältnisse, sondern packt an, engagiert Euch und bringt Euch ein! Und sorgt dafür, dass die Verhältnisse erhalten bleiben oder, wo notwendig, besser werden. Im Übrigen heißt meine Botschaft: Resigniert nicht vor den Aufgaben die sich heute stellen, sondern bedenkt, dass Eure Mütter und Väter, Eure Großmütter und Großväter vor Aufgaben standen, die ähnlich schwer zu bewältigen waren, wie die heutigen Aufgaben und dass sie sie alles in allem erfreulicherweise gelöst haben. Es gibt keinerlei Grund, vor den heutigen Aufgaben zu resignieren. Sie mögen vielfältig und schwierig sein, aber so schwierig wie der Wiederaufbau des zerstörten Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg gewesen war, sind sie nicht.

 

Maja Eib: Sie haben als Ministerpräsident den „Thüringen-Monitor“, eine Studie zu den politischen Einstellungen der Bürgerinnen und Bürger des Freistaates Thüringen, einem Forscherteam der FSU Jena in Auftrag gegeben, die seit dem Jahr 2000 jährlich veröffentlicht wird. In der aktuellen Wahlumfrage (November 2022) ist die AfD mit 25 Prozent stärkste Kraft, gefolgt von der Linken mit 23 Prozent und die CDU bei 21 Prozent. Die SPD kommt auf 11 Prozent, Grüne 7 und FDP 5 Prozent. Was kann die aktuelle Politik der Mitte vor allem auch in schweren Krisenzeiten tun, um bei den Menschen wieder mehr Akzeptanz für und Zufriedenheit mit unserer Demokratie und vor allem auch Institutionenvertrauen zurückzugewinnen?

Bernhard Vogel: Die Anregung, einen Thüringen-Monitor in Auftrag zu geben, geht auf den Anschlag auf die Erfurter Synagoge zurück, der mich damals veranlasst hat, jährlich die Stimmungslage der Bürgerinnen und Bürger in Thüringen zu untersuchen, das Ergebnis dem Landtag vorzulegen und dort zu diskutieren. Natürlich beunruhigt mich das Umfragebild, von dem Sie gerade gesprochen haben. Ich bitte aber zu bedenken, dass es dafür Gründe gibt – und dass diese Gründe zu erklären sind. Die AfD ist in Thüringen stärker als in vielen anderen Ländern, weil die Linken ihre Funktion als Protestpartei verloren haben seit sie selbst an der Regierung beteiligt sind. Die AfD ist in Thüringen stärker als in anderen Ländern, weil der Umbau der sozialistischen Planwirtschaft zur Sozialen Marktwirtschaft in den ostdeutschen Ländern nicht wie in den westdeutschen Ländern zu einem Wirtschaftswunder geführt hat, sondern zunächst zu einer erheblich steigenden Arbeitslosigkeit. Es gibt Gründe für die unterschiedliche Einschätzung, sie liegen allerdings auch in den demokratischen Parteien der Mitte. Darum wird es nicht zuletzt darauf ankommen, wie die demokratischen Parteien der Mitte – also die Union, die SPD, die FDP und die Grünen – in den kommenden Wahlkämpfen mit der Situation Thüringens umgehen und wie sie mit der anormalen Situation, dass AfD und Linke in Thüringen im Gegensatz zu allen anderen Ländern der Bundesrepublik über eine Mehrheit verfügen, fertig werden.

 

Philipp Lerch: Sie haben das Amt des Ministerpräsidenten in zwei Ländern auf ganz besondere Weise gestaltet und geprägt. Wie blicken Sie heute auf dieses Amt, seine Rolle und seine Bedeutung in der politischen Landschaft der Bundesrepublik Deutschland?

Bernhard Vogel: Ob ich das Amt in besonderer Weise geprägt habe, möchte ich mit einem Fragezeichen versehen. Jedenfalls waren es in der Tat unterschiedliche Aufgaben und Herausforderungen in Rheinland- Pfalz und in Thüringen: Rheinland-Pfalz bestand bereits als festgefügtes Land, als ich in Mainz die Nachfolge von Helmut Kohl antrat, während in Thüringen der Freistaat ja erst wiederaufgebaut werden musste, weil er 1956 vom DDR-Regime aufgelöst worden war. Was das Amt und die Rolle betrifft, so ist in der Tat maßgebend, dass die Bundesrepublik Deutschland nach der Ordnung des Grundgesetzes ein föderales Staatswesen ist, und dass die Länder keine Erfüllungsgehilfen des Bundes sind, sondern eigenständige und selbstständige Aufgaben haben und dass sie über den Bundesrat an der Verwaltung und Regierung des Bundes mitwirken. Das gibt  selbstverständlich dem Vorsitzenden des jeweiligen Landeskabinetts, der Ministerpräsidentin oder dem Ministerpräsidenten, eine entscheidende Rolle. Nach den Länderverfassungen steht ihnen die Richtlinienkompetenz zu. Ich habe nie von ihr Gebrauch gemacht, weil ich immer gewusst habe, dass alle Kabinettsmitglieder wissen, dass ich sie besitze.

 

Maja Eib: Quidquid agis prudenter agas et respice finem. – Was auch immer Du tust, tu‘ es klug und bedenke das Ende. (Gesta Romanorum, Cap. CIII) Dieses Lieblingszitat von Ihnen hängt im Bernhard Vogel-Saal im Thüringer Landtag. Es prägte Ihr politisches Leben und Wirken. Gerade in einer Zeit, in der man durch die digitalen Medien eine unwahrscheinliche Beschleunigung in der Weitergabe von Fakten, aber auch bei der Verbreitung von Desinformationen beobachten kann, könnte dieser Satz helfen. Warum gelingt dies aber oft nicht?

Bernhard Vogel: Es ehrt mich, dass ein Saal im Landtag von Thüringen meinen Namen trägt und es freut mich, dass dieser für mich in der Tat wichtige Satz an der Wand in diesem Saal steht. Dass dieser Satz nicht immer beachtet wird, beweist, wie notwendig es ist, auf ihn hinzuweisen. Es gilt eben nicht nur darauf zu achten, was morgen in der Zeitung steht, sondern vor allen Dingen zu bedenken, was am Ende dabei herauskommt. Ich bin fest überzeugt, dass politische Führung zwar immer auch darin besteht, die Mitglieder der Partei, für die man verantwortlich ist, hinter sich zu wissen, aber dass es besonders darauf ankommt, die Partei auch zu führen. Die wichtigsten Entscheidungen in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland sind getroffen worden, ohne dass die Mehrheit der Bevölkerung hinter ihnen gestanden hätte, aber sie sind alle nach einiger Zeit von der Mehrheit der Bevölkerung als richtig akzeptiert worden.

 

Maja Eib und Philipp Lerch: Warum und wozu braucht es heute – noch immer oder vielleicht sogar mehr denn je? – Christliche Demokratinnen und Demokraten?

Bernhard Vogel: Weil nach Ende des Zweiten Weltkriegs überall in Deutschland eine bahnbrechende und anhaltend aktuelle Idee zur Partei wurde, die drei Wurzeln hatte: christlich-sozial, freiheitlich-liberal und wertkonservativ. Diese Partei hat sich in den letzten 75 Jahren als außerordentlich erfolgreich erwiesen. Sie hat einen großen Teil der Zeit die Bundeskanzler, die erste Bundeskanzlerin und die Mehrheit in der Bundesregierung gestellt. Und sie ist nach wie vor eine Volkspartei geblieben. Für die Bewältigung der Aufgaben der Zukunft wird sie gebraucht. Dafür muss sie Profil zeigen, dafür muss sie die Wurzeln pflegen, aus denen sie entstanden ist, und dafür muss sie zu führen lernen und nicht nur auszuführen.

 

Philipp Lerch: Sie leben heute in Speyer, in der Pfalz, in der Metropolregion Rhein-Neckar, 40 Kilometer Luftlinie von der deutschfranzösischen Grenze. Die historischen und aktuellen Beziehungen, Verbindungen und Spannungen zwischen Deutschland und Frankreich sind hier besonders präsent, intensiv, vielseitig. Für Aussöhnung und Verständigung, gerade im deutsch-französischen Verhältnis, haben Sie sich Ihr Leben lang eingesetzt: als rheinlandpfälzischer Kultusminister und Ministerpräsident, im Rahmen der Regionalpartnerschaft Rheinland-Pfalz/Burgund und als Bevollmächtigter der Bundesrepublik Deutschland für die deutschfranzösischen kulturellen Beziehungen. Welche Bedeutung kommt Ihres Erachtens auch in Zukunft der deutsch-französischen Freundschaft und Zusammenarbeit in und für Europa zu?

Bernhard Vogel: Das eigentliche Geheimnis des Erfolges von Konrad Adenauer nach 1949 war sein Bemühen um eine Aussöhnung mit Frankreich. Auf der deutsch-französischen Freundschaft beruht ganz wesentlich die Europäische Einigung und die Rolle, die Europa heute in der Welt spielt. Nirgendwo in Deutschland kann man das stärker spüren als gerade hier in der Pfalz, an der Grenze zum Elsass. Aber es bedarf natürlich auch immer erneut des Engagements, damit Verbindungen, Freundschaften und Partnerschaften nicht einschlafen oder in den Hintergrund geraten. Dafür müssen wir uns auch in Zukunft immer wieder einsetzen und auf allen politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Feldern so eng wie möglich zusammenarbeiten. Für Deutschland, Frankreich und Europa. Natürlich darf über der fundamentalen Bedeutung der deutsch-französischen Freundschaft nicht vergessen werden, dass unsere Beziehungen zu Polen und zu Israel ebenfalls von ganz besonders herausragender Bedeutung sind.

 

Philipp Lerch: Welche Rolle könnte auch im 21. Jahrhundert noch die rheinland-pfälzisch/burgundische Regionalpartnerschaft spielen?

Bernhard Vogel: Ich wünsche mir, dass sie von ihrer Vitalität, mit der sie als erste Partnerschaft, die von Deutschland und Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg überhaupt geschlossen worden ist, nichts verliert, dass die Partnerschaft nicht einschläft, dass sie im besten Sinne des Wortes „alltäglich“ wird und dass ihr immer wieder neue Impulse gegeben werden. Dies sollte auch ganz konkret für den Austausch über aktuelle politische und gesellschaftliche Herausforderungen gelten: etwa mit Blick auf den Angriffskrieg auf die Ukraine und dessen Folgen, auf die Bewältigung der Corona-Krise oder auf den Natur-, Umwelt- und Klimaschutz. Wie geht unsere Partnerregion damit um, wie bewältigt sie ihre Aufgaben, was können wir voneinander lernen?

 

Maja Eib und Philipp Lerch: Wir sprachen über die deutsch-französische Geschichte, die Teilung Deutschlands und den Wiederaufbau nach der Friedlichen Revolution. Wie blicken Sie aktuell, 106 Jahre nach der Schlacht von Verdun, 78 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, 32 Jahre nach der Wiedervereinigung und im Jahr des Beginns des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine, auf die große Frage von „Krieg und Frieden“ in Europa?

Bernhard Vogel: Zunächst: Der Frieden zwischen Deutschland und Frankreich, der Frieden zwischen zwei Ländern, die sich in drei Kriegen bekämpft haben, ist Zeichen eines Erfolges, den wir uns nach 1945 zunächst nicht vorstellen konnten. Dass aber nach 75 Jahren in Europa wieder Krieg herrscht, kann einen nur mit Schrecken und Entsetzen erfüllen – und mit dem Bemühen, alles zu tun, um diesen Krieg zu einem friedlichen Ende zu bringen. Mir ist allerdings nicht klar, wie es zu einem echten Friedenschluss zwischen der Ukraine und Russland kommen soll, solange Russland den Anspruch auf Gebietsteile der Ukraine nicht aufgibt. Ich wünsche mir ein Ende des Krieges, ich wünsche mir aber ein Ende, das die Freiheitsrechte und Selbstentscheidungsrechte der Ukraine nicht beschneidet.

 

Maja Eib und Philipp Lerch: Was lässt Sie in diesen Zeiten gleichwohl so lebensfroh, so optimistisch und auch zuversichtlich nach vorne blicken, zumal in Ihrem fortgeschrittenen Alter von 90 Jahren?

Bernhard Vogel: Ich will das nicht übertreiben, sondern möchte mich um nüchternen Realismus bemühen und darum sagen: Die Erfahrung mit 75 der 90 durchlebten Jahre sind für mich die Quelle meiner Hoffnung für die Zukunft der heute Verantwortlichen und der danach folgenden Generationen.

 

Maja Eib und Philipp Lerch: Herzlichen Dank für das Gespräch.

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