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Konrad-Adenauer-Stiftung e. V.

Länderberichte mal anders

Inklusive Arbeitsmarkt-, Bildungs- und Gesundheitspolitik in Brasilien?

von Anja Czymmeck, Carmen Leimann-López, Luiz Gustavo Carlos

Inklusion weltweit – Aktueller Stand aus Brasilien

Brasilien hat es sich zum Ziel gesetzt, Menschen mit Behinderung in das gesellschaftliche Leben zu integrieren und ihren Rechtsansprüchen gerecht zu werden. Quotenregelungen auf dem Arbeitsmarkt, bauliche Maßnahmen in öffentlichen Gebäuden und im Personennahverkehr, Einsatz von Gebärdensprache, universeller Zugang zum Gesundheitssystem sowie die Ratifizierung der Übereinkunft der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderung sind Beispiele hierfür. Zudem hat sich Brasilien auch der Agenda 2030 verpflichtet. Damit einher geht das Ziel, soziale Ungleichheiten zu verringern und die Inklusion zu fördern.

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Status Quo

17,2 Millionen der 215 Millionen Brasilianer haben eine Behinderung. Um die Inklusion dieser Personen in der Gesellschaft zu gewährleisten, steht der Staat vor der Herausforderung, spezifische Public Policies zu entwickeln und umzusetzen, die den Bedürfnissen und Rechtsansprüchen dieser Bevölkerungsgruppe gerecht werden. Juristisch betrachtet ist die Lage sehr fortgeschritten, in der Praxis sind jedoch Defizite in der sozialen Inklusion, beim Zugang zu Wohnraum, Bildung und Gesundheitsversorgung sowie im öffentlichen Raum zu bemängeln.

 

Entwicklung der Gesetzeslage

Seit der Wiederstellung der Demokratie in Brasilien 1984 sind zahlreiche Gesetze erlassen und Mechanismen geschaffen worden, um die Bürgerrechte, Inklusion und Teilhabe von Menschen mit Behinderung zu garantieren. Diese Rechtsansprüche sind unter anderem in der brasilianischen Verfassung verankert. 1991 wurde zudem eine Quotenregelung eingeführt, die Unternehmen ab einer Größe von 100 Mitarbeitern vorschreibt einen Anteil (2-5 Prozent) an Personen mit Behinderung zu beschäftigen. Dabei müssen die Arbeitsbedingungen und Aufgaben an die Bedürfnisse und Fähigkeiten der Arbeitnehmer angepasst werden. 2009 trat in Brasilien zudem die Übereinkunft der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderung in Kraft. Sie garantiert bürgerliche und gesellschaftliche Teilhabe, Chancengleichheit und den Schutz vor Diskriminierung. Zusätzlich wurde 2015 ein Gesetz erlassen, dass die Definition von Behinderung nicht mehr als „statische und biologische Eigenschaft“ der Personen versteht, sondern viel mehr als Einschränkungen physischer, mentaler, intellektueller und sensorischer Natur, die in der menschlichen Interaktion zum Vorschein kommen.

Es folgten entsprechende Anpassungen des Arbeits-, Verbraucher- und Wahlrechts. Auch die Statuten der Städte und das Zivilrecht wurden aktualisiert. Konkret erreichten die Brasilianer mit Behinderung hierdurch mehr Entscheidungsfreiheit, einen Rechtsanspruch auf inklusive Bildung, Eheschließung und das Anfechten der Vormundschaft. Mit der Einführung des nationalen Registers für Personen mit Behinderung und des entsprechenden Ausweises wurde zudem die Gewährleistung der gesetzlich vorgeschriebenen bevorzugten Behandlung in Behörden, im Verkehrswesen, aber auch bei Kultur, Sport- und Freizeitveranstaltungen vereinfacht.

 

Inklusion auf dem Arbeitsmarkt

Trotz der Quotenregelung ist die Arbeitslosenrate von Menschen mit Behinderung vergleichsweise hoch (10,3 Prozent im Jahr 2019, in dem die letzte Studie von der Statistikbehörde IBGE hierzu herausgegeben wurde) und steigt mit zunehmendem Alter. Auch das Geschlecht und die Hautfarbe spielen in Brasilien eine entscheidende Rolle. So haben es behinderte Frauen und Afrobrasilianer schwerer eine Arbeit zu finden. Mit Blick auf die Art der Einschränkung ist der Studie zu entnehmen, dass Arbeitnehmer mit einer Seh- oder Hörbehinderung bzw. körperlichen Einschränkungen öfter berufstätig sind als Personen mit einer geistigen oder mehr als einer Behinderung. Insgesamt ist knapp einem Drittel die Integration auf dem Arbeitsmarkt gelungen. 34 Prozent der Arbeitnehmer mit Behinderung gehen einer formellen Beschäftigung nach. Bei Personen ohne physische oder mentale Einschränkung liegt dieser Wert in Brasilien bei 50,9 Prozent. Insgesamt ist zu beobachten, dass trotz der Quotenregelung viele Stellen für Menschen mit Behinderung aufgrund mangelnden Engagements der Arbeitgeber unbesetzt bleiben.

 

Inklusive Bildung

In Brasilien gibt es große regionale Unterschiede was die erforderliche Infrastruktur zur Inklusion von Grundschulkindern mit Behinderung anbelangt. Im Durchschnitt werden lediglich 55 Prozent der Bildungseinrichtungen den Anforderungen gerecht. Am besten integriert sind Kinder mit einer Seh- oder Hörbehinderung. Neben den baulichen Maßnahmen wirken sich auch das Familieneinkommen, Geschlecht und die Hautfarbe auf den Bildungserfolg aus. Am meisten benachteiligt sind hier die Afrobrasilianer mit Behinderung: der IBGE-Studien zufolge verfügen lediglich zwei Fünftel von ihnen im Schnitt über einen Sekundarschulabschluss.

 

Gesundheitsversorgung

Das universelle Gesundheitssystem Brasiliens gewährleistet jeder Person eine kostenlose Versorgung. Anders als in Deutschland gibt es keine Versicherungspflicht. Folglich sind staatliche Gesundheitszentren und Krankenhäuser die erste Anlaufstelle für viele Brasilianer. Dies betrifft sowohl Routineuntersuchungen als auch die Behandlung chronischer Krankheiten, Rehabilitierung und die Ausgabe von Hilfsgeräten. Das öffentliche Gesundheitssystem wird der IBGE-Studie zufolge von der Mehrheit der Menschen mit Behinderung genutzt. Mit Blick auf den Zugang und die Versorgung sammeln Weiße unter 60 Jahren hiermit die besten Erfahrungen. Je nach finanziellen Möglichkeiten suchen manche Familien jedoch auch private Einrichtungen auf, da die Wartezeiten dort oft kürzer sind, häufig neuere Geräte bei Untersuchungen zum Einsatz kommen und die personellen Ressourcen größer sind.

 

Bürgerliche Teilhabe

Es gibt mehrere Ansätze in Brasilien, um die bürgerliche Teilhabe von Menschen mit Behinderung zu fördern. So verfügen laut IBGE 14,4 Prozent der Städte und Gemeinden über einen eigenen Etat für die Gewährleistung ihrer Rechte. 82,7 Prozent der Kommunen geben zudem an, sich mit einer gezielten Public Policy oder einem Programm für die Rechte der Menschen mit Behinderung einzusetzen. 27,5 Prozent der Rathäuser setzen geschultes Personal ein, um auf die Menschen mit Behinderung einzugehen, zum Beispiel mithilfe von Gebärdensprache. Zudem sind die öffentlichen Plätze und Gebäude in 90 Prozent der Städte auch für Personen mit einer körperlichen Behinderung zugänglich.

Beinahe die Hälfte der brasilianischen Städte, wie zum Bespiel Rio de Janeiro, ermöglicht Menschen mit Behindertenausweis die kostenlose Nutzung des öffentlichen Personennahverkehrs. Einige Gemeinden betreiben auch inklusiven Wohnungsbau, um Betroffene ohne familiäre Unterstützung eine würdige Unterkunft zu garantieren.

Mit Blick auf die bürgerliche Teilhabe sind in zwei Dritteln der Kommunen Räte für die Rechte der Personen mit Behinderung aktiv. Gut ausgebildete Menschen mit Behinderung haben zudem gute Aussichten darauf, als Kandidat für ein öffentliches Amt gewählt zu werden. Zudem verfügt beispielsweise die Wirtschaftsmetropole São Paulo über ein eigenes Ministerium auf bundesstaatlicher Ebene, das Inklusion von Menschen mit Behinderung als Querschnittsthema behandelt und unter anderem Projekte wie einen inklusiven Bewerberpool fördert. Zwei Drittel der Städte und Gemeinden befassen sich darüber hinaus mit einem behindertengerechten Zugang zu ihren digitalen Dienstleistungen.

 

Fazit

Die brasilianische Politik bemüht sich auf vielfältige und innovative Weise um die Inklusion von Menschen mit Behinderung in allen Politikbereichen. Dennoch ist zu beobachten, dass auch diese Bevölkerungsgruppe nicht von den strukturellen Herausforderungen des Landes und Diskriminierung verschont bleibt. Gezieltes Monitoring, das unermüdliche Engagement der Betroffenen und Zivilgesellschaft sowie gemeinwohlorientierter Politikerinnen und Politiker tragen dazu bei, die verfassungsrechtlichen Grundsätze und Ziele der Agenda 2030 mit jedem erfolgreich implementierten Programm der vollständigen Inklusion näher zu bringen. Der Austausch über gute Praktiken auf kommunaler, nationaler und internationaler Ebene sowie die ausreichende Finanzierung der erforderlichen Vorhaben sind entscheidende Faktoren, damit die Menschen mit Behinderung in Brasilien noch mehr Inklusion und soziale Gerechtigkeit erfahren.

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