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Konrad-Adenauer-Stiftung e. V.

Länderberichte mal anders

Schweden - Ein Vorbild im Bereich Inklusion?

von Charlotte Storch

Inklusion weltweit – aktueller Stand aus Schweden

Schweden hat den Ansatz, dass alle Kinder an einer inklusiven Schule für Alle lernen sollen, seit über einem halben Jahrhundert maßgeblich mitgeprägt. Dementsprechend ist Schweden heute schon sehr weit bei der Umsetzung von Inklusion an Bildungseinrichtungen, also der Implementierung internationaler Erklärungen. Wie wird Inklusion an schwedischen Schulen gelebt und was macht Schweden anders? Inwiefern ist die Vorbildrolle, die Schweden zugeschrieben wird, gerechtfertigt?

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Alle Kinder haben das Recht, in die Schule zu gehen

In verschiedenen internationalen Konventionen haben sich Länder darauf geeinigt, dass alle Kinder ein Recht auf Bildung haben und dass der beste Weg zur Erreichung dieses Zieles eine inklusive Schule, d.h. eine Schule für Alle ist. Die Salamanca Erklärung von 1994 und die UN-Deklaration über die Rechte von Menschen mit Behinderung von 2007 geben dazu den Rahmen vor. So steht in der Salamanca Erklärung:

 

„(E)s (ist) notwendig (..), auf eine ´Schule für alle´ hinzuarbeiten - also auf Einrichtungen, die alle aufnehmen, die Unterschiede schätzen, das Lernen unterstützen und auf individuelle Bedürfnisse eingehen.“1


Schweden hat sich u.a. in diesen beiden internationalen Abkommen dazu verpflichtet, diese Ziele sowohl de jure in nationales Recht als auch praktisch in den schwedischen Bildungseinrichtungen umzusetzen. Dabei hat Schweden die Idee von Inklusion mitgeprägt. In Schweden existierten bis 1960 zwei voneinander getrennte Schulsysteme. Schüler und Schülerinnen mit einer Behinderung gingen in eine separate Förderschule. In den 1960ern setzte sich dann die Idee durch, dass es besser sei, wenn alle Kinder an einer gemeinsamen Schule unterrichtet werden. Nach den daraus folgenden Schulreformen gingen immer mehr Kinder mit einer Behinderung auf die gleiche Regelschule wie alle anderen und es entstand eine Schule für Alle. 2


Inklusion - mehr als nur Platzierung an der Regelschule

Nach dieser schwedischen Schulreform, welche eine Schule für Alle einführte, lag der Fokus auf Integration. Das heißt: Schülerinnen und Schüler mit einer Behinderung wurden hauptsächlich an Regelschulen platziert und bekamen den gleichen Lehrplan und den gleichen Unterricht wie alle anderen. Jedoch zeigten die Erfahrungen aus der Praxis, dass dieser integrative Ansatz, also die reine Platzierung an Regelschulen, oft nicht funktionierte. Der Grund für den begrenzten Erfolg lag darin, dass das bisherige Schulsystem für eine andere Gruppe Kinder geschaffen worden war. Dem anfänglichen Konzept einer Schule für Alle zufolge sollten sich die Kinder mit einer Behinderung dem für sie nicht gemachtem Schulsystem anpassen und nicht umgekehrt. Stück für Stück wurde nach zwei Jahrzehnten Praxis deutlich, dass es mehr als nur die Platzierung an Regelschulen braucht, damit alle Kinder die vorgegebenen Lernziele erreichen können. Inklusion bedeutet, dass sich die Lernräume, also die Schulen, an die Schülerinnen und Schüler anpassen müssen, um so Teilhabe und Zugang zu Bildung zu ermöglichen. Diese Kritik annehmend – und gestärkt durch die internationalen Konventionen – führte Schweden in den Dekaden um die Jahrtausendwende mit mehreren Reformen eine inklusive Schule für Alle ein. Damit verbesserte das Land nicht nur die Teilhabe von Schülern und Schülerinnen mit einer Behinderung, sondern für alle Lernenden in allen Bildungsstadien erheblich.3

 

Inklusion - Die richtigen Voraussetzungen für das Lernen schaffen

Ein Kind an einer schwedischen Schule hat das Recht auf Unterstützungsmaßnahmen bei einer Behinderung oder Form von Lernbeeinträchtigung. In Schweden umfasst diese Gruppe von Lernenden eine relative große Gruppe, da sowohl Kinder mit größeren Beeinträchtigen also auch solche mit kleineren Lerndefiziten, wie z.B. ADHS oder eine Leserechtschreibschwäche, Anspruch auf zusätzliche Unterstützung haben. Die Sonderpädagogische Schulbehörde (Specialpedagogiska skolmyndigheten SPSM) schreibt dazu:


„Eine Lernbeeinträchtigung kann Konsequenzen auf das individuelle Lernen haben. Deswegen ist die Wahl von Lernstrategien und Hilfsmittel im Unterricht zentral für die Teilhabe am Unterricht. Die Art und Weise den physischen Lernraum zu gestalten ist wichtig für die Möglichkeiten des Schülers oder der Schülerin Lernziele zu erreichen “4


Wenn ein Schüler oder eine Schülerin von diesem Recht auf ergänzende Unterstützungsmaßnahmen Gebrauch machen will, veranlasst die entsprechende Schule zunächst eine medizinische Analyse, um die Schwierigkeiten und Herausforderungen zu diagnostizieren und festzustellen, welche Formen der Unterstützung die Person braucht. Diese Analyse bildet die Grundlage für die Entscheidung, welche geeigneten Maßnahmen die Schule ergreifen kann und sollte. Diese Maßnahmen können kleine Ergänzungen sein, die das Verfolgen des Unterrichts erleichtern und das eigenständige Arbeiten unterstützen wie beispielsweise:

› Anpassen des Unterrichts, angepasste Zeit bei Prüfungen, praktische Umgestaltung des Klassenzimmers, punktueller Einsatz von Sonderpädagogen, spezieller Stundenplan oder
auch eine Vielzahl (digitaler) Hilfsmittel etc.


Ist der Anpassungsbedarf größer können auch andere Mittel zu Einsatz kommen wie z.B.

› Ein regelmäßiger Einsatz von Sonderpädagoginnen und/oder einem persönlichen Assistenten, ein angepasster oder reduzierter Lehrplan oder auch zusätzlicher Einzelunterricht.5


Die Schule, insbesondere die Rektorin, hat bei dem Einsatz von Maßnahmen viel Freiraum, muss ihre Wahl aber im medizinischen Gutachten verankern. Die umfassende Entscheidungsmacht der Schulleitung kann aber auch problematisch sein, wie z.B. ein Fall 2021 an der Schule Lärvux in der schwedischen Stadt Örebro zeigt. An der besagten Schule hatte der Rektor persönliche, sonderpädagogische Assistenten pauschal untersagt. 6 Generell führt die Entscheidungskompetenz der Schulleitung in Schweden dazu, dass es große Unterschiede in der de facto Umsetzung der Inklusion zwischen Schulen gibt, weil sie letztendlich vom Bewusstsein und den Kompetenzen der Schulleitung und ihres Personals in den Klassenzimmern abhängt.7


Was braucht ein inklusives Klassenzimmer und ein inklusiver Hörsaal?

Inklusion hat verschiedene Aspekte. Ein wichtiger Faktor ist die emotionale und soziale Inklusion, also die eigene Erfahrung von Inklusion.8 Denn egal ob Grundschule, Gymnasium oder Universität: eine inklusive Lernatmosphäre ist essenziell.

Wissenschaftliche Studien haben gemessen, dass schwedische Kinder mit einer Behinderung noch immer in der Gruppe von Lernenden, die den Schulabschluss nicht schaffen, überrepräsentiert sind. Ein Hauptgrund dafür ist Mobbing bzw. dass Sich-nicht wohl fühlen im Lernraum, welches dazu führt, dass Lernende mit einer Behinderung weniger gern zur Schule gehen.9 Dies ist kurzfristig ein Problem an sich und hat zudem langfristige Folgen, da Schulabschlüsse sehr wichtig für die spätere Teilhabe am Arbeitsmarkt sind. Oft können schon durch kleine, aber bewusste Handlungen der Lehrkräfte wie Fragen zweimal stellen, eine einfache Sprache verwenden, Stress vermeiden oder Komplimente geben dazu beitragen, dass sich Schüler und Schülerinnen mit einer Lernbeeinträchtigung besser gesehen und verstanden fühlen. Ein tolerantes Klima an Bildungseinrichtungen stärkt schließlich die Motivation aller Kinder, zur Schule zu gehen. Deswegen ist es wichtig, dass Lehrkräfte über das Bewusstsein und die Kompetenzen verfügen, um z.B. gegen Mobbing vorzugehen und ein rücksichtsvolles, inklusives Lernklima zu schaffen. Für die Schulung von Lehrkräften gibt es staatliche Mittel, die Schulen beantragen können.10


Schweden – ein Vorbild im Bereich Inklusion?

In internationalen Debatten über Inklusion an Schulen wird Schweden oft ein Vorbildcharakter zugeschrieben.11 Fest steht, dass Schweden, wie auch andere nordische Länder, von Beginn an ein Vorreiter bezüglich der Idee und Umsetzung von einem gemeinsamen Lernen an einer Schule gewesen ist.
Dies wird nicht nur bei einem Blick auf die Bildungseinrichtungen, sondern generell im öffentlichen Raum sichtbar. Ein klassisches Beispiel ist die Zugänglichkeit von Gebäuden und Einrichtungen in Form von Fahrstühlen und Rampen etc.


Schweden ist ein Land mit einer langen Tradition von demokratischen Werten wie Gleichheit, Toleranz und Offenheit, welche die Grundlage dafür bilden, wie die Gesellschaft Mitmenschen mit einer Behinderung gegenüber begegnet. Die gesellschaftliche Debatte über Inklusion dreht sich in Schweden weniger um die Frage „ob“, sondern vielmehr um die Frage „wie“. Dennoch zeigen Stimmen von Wissenschaft, Betroffenen und Zivilgesellschaft, dass auch in Schweden noch Luft nach oben ist. Dabei werden vor allem auf die umfassende Rolle der Schulleitung und die daraus resultierenden regionalen Unterschiede bezüglich der Qualität der umgesetzten Inklusion an Bildungseinrichtung verwiesen. Auf dem Weg zu einer wirklichen Schule für Alle wird auch immer wieder kritisiert, dass es das Förderschulmodell „die Särskola“ für einen Teil der Lernenden mit einer geistigen Behinderung immer noch gibt, auch wenn nur ein sehr kleiner Anteil der schwedischen Schüler und Schülerinnen diese besucht.


Insgesamt lässt sich aber festhalten: Schwedens Bildungseinrichtungen sind heute inklusiver und zugänglicher als die von vielen anderen Ländern der Welt. In anderen Worten: Schweden hat bereits viel davon erreicht, worauf sich die internationale Gemeinschaft in den UN-Konventionen verständigt hat.

 

 

 

1 The Salamanca Statement and Framework for Action on special needs education. (1994)
2 DeVries M. Jeffrey; Knickenberg, Mararita; Trygger, Maria (20121) Academic self-concept, perception of inclusion, special needs and gender: evidence from inclusive classes in Sweden. European Journal of Special Needs Education Vol. 37 (3) S.511-525.
3 Magnússon, Gunnlaugur (2020) Inclusive education and school choice
lessons from Sweden, European Journal of Special Needs Education Vol. 35 (3) S. 25-39.
4 Funktionsnedsättning – Specialpedagogiska skolmyndigheten (spsm.se) (Aufgerufen am 11.01.23)
5 Rätt att få hjälp i skolan - Skolverket. (Aufgerufen am 11.01.23)
6 SVT NYHETER (2021) Elever med funktionsnedsättning får inte ha assistenter i klassrummet. (Aufgerufen am 11.01.23)
7 Wennergren, Ann-Christine; Godolakis, Henrietta Carolsson (2022) Rektors betydelse för kollegialt lärande. Specialpedagogiska skolmyndigheten.
8 DeVries M. Jeffrey; Knickenberg, Mararita; Trygger, Maria (20121) Academic self-concept, perception of inclusion, special needs and gender: evidence from inclusive classes in Sweden. European Journal of Special Needs Education Vol. 37 (3) S.511-525.
9 Forslund, Anders; Liljeberg, Linus (2021) Unga som varken arbetar eller studerar. En beskrivning av gruppen och effekter av insatser för att möta problemet. Institutet För Arbesmarknads- och Utbildningspolitik Utvärdering Vol. 2021 (12).
10 Specialpedagogiska skolmyndigheten (2019) Vad sager elever med funktionsnedsättning om trygghet. Arbetsro och studiemotivation? (Aufgerufen am 11.01.23)
11 Magnússon, Gunnlaugur; Göransson, Kerstin; Lindqvist, Gunilla (2019): Contextualizing inclusive educational policy: the case of Sweden. Nordic Journal od Studies in Educational Policy Vol. 5 (2) S. 67-77.

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