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Bachelet und Longueira gewinnen Urwahlen in Chile

von Winfried Jung

Kommt es bei den nächsten Präsidentschaftswahlen zu einem Regierungswechsel?

Bei den Urwahlen vom 30. Juni 2013 in Chile standen sich zwei Koalitionen gegenüber, um ihre Kandidaten für die Präsidentschaftswahlen am 17. November 2013 zu bestimmen: Einmal das Mitte-Links-Bündnis der „Nueva Mayoría“ (neue Mehrheit) sowie der Mitte-Rechts-Pakt „Alianza“ (Allianz). Innerhalb der „Nueva Mayoría“ setzte sich schließlich mit großem Vorsprung die ehemalige Staatspräsidentin Michelle Bachelet durch, während bei der „Alianza“ der frühere Wirtschaftsminister Pablo Longueira das Rennen für sich entschied.

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Bachelet und Longueira werden nun - neben anderen Kandidaten, die sich nicht den Urwahlen stellten - bei den kommenden Präsidentschaftswahlen gegeneinander antreten. Mit 22,4 % war die Wahlbeteiligung überraschend hoch. Damit haben die Urwahlen, die in dieser Form zum ersten Mal in Chile durchgeführt wurden, ihren Test bestanden.

Unter der Regierung Piñera hat es in den vergangenen Jahren verschiedene politische Reformen gegeben, unter anderem auch eine Reform des Wahlrechts, die folgende Änderungen brachte: Eine automatische Registrierung aller Wähler (vorher musste man sich in das Wahlregister einschreiben, um wählen zu können) verbunden mit einer freiwilligen Stimmabgabe (zuvor galt eine Wahlpflicht) und sog. legalen „Primarias“ (Urwahlen), von der Wahlbehörde SERVEL organisiert, freiwilliger Natur, vom Ergebnis her jedoch bindend. Bereits unter den Regierungen der Concertación von 1990 bis 2010 wurden in Chile im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen Urwahlen durchgeführt, aber diese waren von den Parteien der Concertación selbst veranstaltet worden. Mit der automatischen Registrierung der Wähler kamen 5,3 Mio. neue Wähler hinzu (ein Anstieg der Wählerschaft von 8,1 Mio. auf 13,4 Mio.). Damit verband man die Hoffnung, auf diese Weise die Wahlbeteiligung, insbesondere die von Jugendlichen, die den Wahlen zuletzt immer mehr ferngeblieben waren, steigern zu können. Bei der ersten Anwendung der neuen Regelung, hier bei den Kommunalwahlen am 28. Oktober 2012, trat allerdings genau der gegenteilige Effekt ein: Die Wahlbeteiligung sank dramatisch, nur 43,2 % der Wähler übten ihr Wahlrecht aus. Infolgedessen waren im Vorfeld der Urwahlen die Befürchtungen groß, dasselbe könnte sich bei diesen Wahlen wiederholen. Dabei ging man davon aus, dass nach den internationalen Erfahrungen mit Primaries in den USA und in Europa normalerweise kaum mehr als 10 % der Wahlberechtigten zur Wahl gehen. Bezogen auf Chile hätte dies eine Teilnahme von 1,3 Mio. bedeutet. Am Ende stellte sich zur freudigen Überraschung aller politisch Verantwortlichen heraus, dass sich an den Wahlen mehr als 3 Mio. beteiligten, gleichzusetzen mit 22,4 % aller Wahlberechtigten. In der chilenischen Presse wurde daraufhin dies als Beweis für die demokratische Reife des Landes gewertet, aber auch als Antwort auf die Ausschreitungen, die es vor den Wahlen als Folge der Demonstrationen der Studenten und Schüler gegeben hatte.

Zu den Urwahlen waren alle Unabhängigen sowie die Mitglieder der Parteien zugelassen, die sich dem einen oder anderen Bündnis angeschlossen hatten: Bei der „Nueva Mayoría“ waren es der Partido Socialista (PS), der Partido por la Democracia (PPD), der Partido Comunista (PC), das Movimiento al Socialismo (MAS), die Izquierda Ciudadana (IC), der Partido Radical (PR) und der Partido Demócrata Cristiano (PDC), bei der „Alianza“ die Unión Demócrata Independiente (UDI) und die Renovación Nacional (RN). Ausgeschlossen war eine Reihe von kleineren Parteien wie z.B. der Partido Progresista (PRO), der Partido Regionalista Independiente (PRI), der Partido Humanista, der Partido Fuerza del Norte und andere, die sich nicht zur Wahl gestellt hatten.

Zusammengenommen beläuft sich die Mitgliederzahl dieser Parteien auf ca. 200.000.

Bündnis „Nueva Mayoría“ klarer Sieger

Das Bündnis „Nueva Mayoría“ gewann die Urwahlen mit großem Vorsprung. Insgesamt 2.137.423 Wähler (72,6 %) gaben der „Nueva Mayoría“ ihre Stimme. Dagegen kam der Pakt der „Alianza“ lediglich auf 806.601 Stimmen (27,4 %). Von den Kandidaten, die sich innerhalb des Bündnisses der „Nueva Mayoría“ zur Wahl gestellt hatten, zum einen die ehemalige Staatspräsidentin Michelle Bachelet (nominiert von den Parteien PS, PPD, PC, MAS und IC), sodann ihr ehemaliger Finanzminister Andrés Velasco als Unabhängiger, ferner der ehemalige Bürgermeister von Peñalolén, Claudio Orrego (PDC) sowie schließlich der Vorsitzende des PR, Senator José Antonio Gómez, wurde Michelle Bachelet (Mitglied der Sozialistischen Partei) ihrer Favoritenrolle klar gerecht und übertraf mit 1.561.563 Stimmen (73%) gleich mehrfach ihre Mitkonkurrenten. Den zweiten Platz errang überraschend Andrés Velasco mit 278.056 Stimmen (13 %), gefolgt von Claudio Orrego mit 189.582 Stimmen (9%) und José Antonio Gómez mit 108.222 Stimmen (5%). Bachelet schnitt dabei in den Regionen Chiles noch besser ab als in der Metropole Santiago de Chile (Unterschied von 10 %). Das Ergebnis veranschaulicht, dass die ehemalige Staatspräsidentin, die während der vergangenen drei Jahre in New York die UN-Frauenorganisa-tion geleitet hat und erst Ende März dieses Jahres nach Chile zurückgekehrt ist, nichts von ihrem Charisma und ihrer Popularität eingebüßt hat. Mit ihrem guten Abschneiden setzt das Bündnis „Nueva Mayoría“, eine Erweiterung der ehemaligen Concertación, bestehend aus den Parteien PS, PPD, PR und PDC, um die Kommunistische Partei und die Izquierda Ciudadana seinen Siegeszug fort. Bereits bei den Kommunalwahlen im Oktober 2012 war man mit 43,1% erfolgreich und verwies die Koalition der „Alianza“ mit 37,4 % auf den zweiten Platz. Dieses Mal fiel das Ergebnis noch deutlicher aus angesichts eines Stimmenvorsprungs von über 1,3 Mio. Innerhalb des Paktes der „Alianza“ setzte sich am Ende nach einem lange offenen Rennen der frühere Wirtschaftsminister und Senator der UDI, Pablo Longueira, mit 51,4 % vor dem ehemaligen Verteidigungsminister und Senator der RN, Andrés Allamand, mit 48,6 % durch. Erstaunlich ist dabei, dass Longueira dieses Ergebnis nach einem Wahlkampf von nur 2 Monaten erzielte, während Allamand seinen Wahlkampf bereits 5 Monate früher begonnen hatte. Longueira löste Ende April den früheren Kandidaten der UDI, den ehemaligen Minister Laurence Golbourne (Unabhängig), ab.

Bachelet unangefochten

Mit ihrem überwältigenden Wahlsieg - Bachelet konnte doppelt so viele Stimmen auf sich vereinen wie Longueira und Allamand zusammen – hat die Kinderärztin, mehrfache Ministerin (Gesundheit, Verteidigung) und frühere Staatspräsidentin (2006-2010), die nach der chilenischen Verfassung nicht unmittelbar wiedergewählt werden konnte, sondern 4 Jahre zuwarten musste, praktisch freie Hand. Sie könnte z.B. ihre unangefochtene Stellung dazu nutzen, um ihr derzeitiges Programm, das stark progressive Züge aufweist, ohne groß zu verhandeln zu ihrem Wahlprogramm für die Präsidentschaftswahl machen. Sie könnte aber auch angesichts der Tatsache, dass der radikalere Teil in der Koalition der „Nueva Mayoría“, vertreten durch den Senator José Antonio Gómez, nur den vierten Platz erreichte, sich - wie nach Urwahlen häufig zu beobachten - auf die Mitte zu bewegen und sich für ein moderateres Programm entscheiden. Denn eines haben die Urwahlen gezeigt, dass nämlich die Wähler Reformen innerhalb des Systems bevorzugten und keine grundsätzliche Änderung der demokratischen Ordnung wünschen.

Velasco - die große Überraschung

Ohne Partei, ohne Parlamentarier, ohne Bürgermeister und Gemeinderäte errang der frühere Finanzminister Andrés Velasco mit einem Wahlkampf, der sich in erster Linie gegen die „alten“ Praktiken in der Politik richtete, zur großen Überraschung vieler den zweiten Platz innerhalb der Koalition der „Nueva Mayoría“. Das sozialdemokratisch-liberale Programm des Columbia-Ökonomen überzeugte sogar einen großen Teil der Wählerschaft in den arrivierten Gemeinden der Metropole Santiago, die generell eher Politiker der „Alianza“ wählen. Velasco hat unmittelbar nach der Urwahl angekündigt, dass er Bachelet zwar in der kommenden Wahlkampagne unterstützen werde, für eine Mitarbeit in einer eventuellen zweiten Regierung der früheren Staatspräsidentin jedoch nicht zur Verfügung stehen werde. In Bezug auf seine Wähler stellte er klar, dass er nicht über ihre Stimmen verfüge. Dies sei Teil der alten und von ihm kritisierten Politik. Es bleibt deshalb abzuwarten, wohin dieser Teil der politischen Mitte sich bei den kommenden Präsidentschaftswahlen orientieren wird.

Enttäuschendes Abschneiden von Orrego

190.00 Stimmen reichten bei dem zweiten Vertreter der politischen Mitte innerhalb der Koalition der „Nueva Mayoría“, dem Christdemokraten Claudio Orrego, nur zum dritten Platz. Der wertkonservative Nachwuchspolitiker, mit 46 Jahren der jüngste unter den Kandidaten, wurde gleich zweifach ein Opfer, einerseits aufgrund der Tatsache, dass Michelle Bachelet eine Politikerin ist, die quer durch alle Parteien Wähler ansprechen kann, andererseits aber auch weil seine eigene Partei, die PDC, nicht geschlossen hinter ihm stand. Viele Senatoren und Abgeordnete der chilenischen Christdemokratie, etliche von ihnen um ihre Wiederwahl fürchtend, hätten es vorgezogen, wenn man von Anfang an auf einen eigenen Kandidaten verzichtet hätte und sich stattdessen dem Lager der Parteien, die Bachelet im Wahlkampf unterstützten, angeschlossen hätten. Die Parteiführung war allerdings dagegen, weil man mit der Kandidatur von Orrego die Hoffnung verband, auf diese Weise eigenes Profil und die Werte des christlichen Humanismus herausstellen zu können. Der dritte Platz von Orrego schwächt nun die Verhandlungsposition der PDC bei den anstehenden Programmdiskussionen im Lager der „Nueva Mayoría“. Bereits im Vorfeld der Urwahlen hatte der Präsident der PPD, Senator Jaime Quintana, angedeutet: „Wenn Orrego Dritter wird, wird es keinen Platz für einen irgendwie gearteten Druck oder Drohungen geben“.

Longueira - der Herausforderer

Pablo Longueira, Bewunderer von Jaime Guzmán, dem Ideologen und späteren Gründer der rechtskonservativen UDI, der er seit 1983 angehört und deren Abgeordneter und Senator er von 1989 an war, bis ihn der jetzige Präsident Sebastián Piñera im Juli 2011 in sein Kabinett berief, hat eine schwere Aufgabe vor sich. Der Abstand, der sich nach diesen Urwahlen zwischen ihm und Bachelet aufgetan hat, ist enorm (die frühere Staatspräsidentin erhielt viermal so viel Stimmen wie er). Diese Lücke in der verbleibenden Zeit von nur viereinhalb Monaten zu schließen, ist eine riesige Herausforderung. Longueira verdankt seinen Sieg insbesondere der Tatsache, dass er besser als sein Konkurrent Andrés Allamand die Ideale der Rechten in Chile vertreten hat. Darüber hinaus war er mehr in der Lage, das sog. „soziale Zentrum“ anzusprechen und sich als überzeugendere Alternative für eine Fortsetzung der Regierung Piñera zu empfehlen. Die Urwahl, ein Novum für die beiden Parteien der „Alianza“, hat zusätzlich gezeigt, dass die UDI, die stärkste politische Kraft im derzeitigen Parlament, immer dann, wenn es darauf ankommt, besser als die RN in der Lage ist, ihre Wählerschaft zu mobilisieren. Allerdings dürfte es für Longueira nicht einfach werden, die enttäuschten Anhänger von RN zu einer Mitarbeit in der anstehenden Kampagne zu bewegen. Longueira, der noch nie eine Wahl verloren hat, gibt sich selbstbewusst: „Wenn wir in nur zwei Monaten diese Urwahlen gewonnen haben, gewinnen wir in 5 Monaten auch die Wahlen im November“.

Das Programm der „Nueva Mayoría“

Noch in der Wahlnacht gab Michelle Bachelet einige Grundzüge ihres Wahlprogramms bekannt, das zuvor schon in zwei Fernsehdebatten in Umrissen von ihr vorgestellt worden war. „Dies ist der Triumph der kostenlosen Erziehung (….) der Wähler hat sich ausgesprochen für eine Steuerreform sowie für eine neue Verfassung“, so Bachelet in einer kurzen Ansprache. Die frühere Staatspräsidentin geht dabei von einer wachsenden Unzufriedenheit in ihrem Land aus, das ihrer Meinung nach trotz großer Fortschritte auf wirtschaftlichem Gebiet nach wie vor unter Ungleichheit, Missbrauch und Unsicherheit, was Beschäftigung, Gesundheit oder die Erziehung der Kinder angeht, leidet. Von daher strebt sie eine größere Inklusion an. Hierzu sind ihrer Meinung nach tiefgreifende Reformen erforderlich, so z.B. eine Reform des Erziehungswesens mit den Schwerpunkten öffentliche Erziehung, Verbesserung der Qualität und Unentgeltlichkeit für alle. Ohne zusätzliche finanzielle Mittel in einer Größenordnung von 1,5 bis 2 % des Bruttosozialprodukts wird dies jedoch nicht zu erreichen sein. Aus diesem Grund plant sie eine Steuerreform, die in erster Linie eine Erhöhung der Kapitalertragssteuer vorsieht. Bachelet fordert aber auch eine neue Verfassung (Teile der derzeitigen chilenischen Verfassung stammen noch aus der Zeit der Militärdiktatur), die die neue Realität des Landes besser abbilden und demokratisch legitimiert sein soll. Über den Weg, der dahin führen soll, z.B. über eine verfassungsgebende Versammlung, ist ein heftiger Streit entbrannt. Um ihr Programm umzusetzen, benötigt Bachelet eine breite Mehrheit, in die ihrer Meinung nach nicht nur Parteien einbezogen werden sollen, sondern auch soziale Organisationen, Mitglieder wie auch Unabhängige, Arbeitnehmer, kleine und mittlere Unternehmer, Künstler sowie Intellektuelle. Für die nächsten Tage wird erwartet, dass die Präsidentschaftskandidatin der „Nueva Mayoría“ ihr Wahlkampfteam umbaut (unter Hiinzuziehung von Fachleuten der anderen politischen Parteien der „Nueva Mayoría“). Große Änderungen am derzeitigen Programmentwurf sind jedoch nicht zu erwarten. Als die Führung der PDC am Tag nach der Wahl ihr Vorschläge für ein zukünftiges Wahlprogramm überreichte würdigte sie zwar die Initiative, betonte aber gleichzeitig, dass „in der programmatischen Arbeit immer unterschiedliche Meinungen auftreten, aber die letzte Entscheidung trifft die Kandidatin“. Der Spielraum wird also nicht groß sein.

Von der Concertación zur „Nueva Mayoría“

Über 20 Jahre hat das Mitte-Links-Bündnis der Concertación, bestehend aus den vier Parteien PS, PPD, PR und PDC, erfolgreich den Transitionsprozess von der Diktatur zur Demokratie in Chile gestaltet. Bei den Wahlen des Jahres 2009 wurde sie zum ersten Mal auf die Oppositionsbänke geschickt, nach einhelliger Meinung hauptsächlich deswegen, weil sie große Teile der politischen Mitte verloren hatte. In den letzten Jahren hat es große gesellschaftliche Veränderungen in Chile gegeben. So sind die Mittelschichten stark angewachsen. Allerdings sind sie nach wie vor wenig stabil. Konjunktureinbrüche oder wie im Falle der Erziehung hohe Studiengebühren können ihnen sehr zusetzen. Bei seinem Wahlsieg 2009 hatte Piñera gerade diese Schichten stark umworben und damit auch Erfolg gehabt. Diese Teile der Gesellschaft zurückzugewinnen, sollte eigentlich die Strategie der „Nueva Mayoría“ sein. Davon ist bislang jedoch wenig festzustellen. Stattdessen hat es mit der Aufnahme der Kommunistischen Partei in die „Nueva Mayoría“ einen klaren Linksrutsch gegeben. Hinzu kommt, dass die Teile des Bündnisses, die sich bemüht haben, direkt auf die politische Mitte zuzugehen, hier Velasco und Orrego, nur auf 22 % der Stimmen gekommen sind. Auffällig dabei die Schwäche der Christdemokratischen Partei, die in der Vergangenheit imm er ein Gegengewicht gebildet hatte zu den mehr links stehenden Kräften innerhalb der Mitte-Links-Koalition. Seitdem sie in den letzten Jahren mehr als eine Mio. Wähler verloren hat, hat ihre Verhandlungsmacht eindeutig abgenommen. So musste sie bereits den Eintritt der Kommunistischen Partei in die „Nueva Mayoría“ hinnehmen und dürfte auch in der Zukunft nicht mehr allzu viel zuzusetzen haben, wenn es darum geht, aus der augenblicklichen Wahlallianz eine Regierungskoalition zu formen. Die Partei selbst befindet sich nach der Niederlage bei den Urwahlen in einer tiefen Krise, ist innerparteilich zerstritten und sieht sich (siehe das gute Wahlresultat von Andrés Velasco, aber auch die Bemühungen von Pablo Longueira um das sog. „centro social“) zunehmender Konkurrenz ausgesetzt. Obwohl die Partei im Moment alles unternimmt, um nach außen hin Geschlossenheit zu zeigen, sind die Rufe nach einem Rücktritt ihres Vorsitzenden, Senator Ignacio Walker, nicht zu überhören. All dies hat Folgen: Die Concertación, die in der Vergangenheit um die Achse PDC – PS aufgebaut war, hat damit aufgehört zu existieren. Welcher Erfolg der „Nueva Mayoría“ beschieden sein wird, muss sich erst noch zeigen.

Neu im Fokus die Parlamentswahlen

Nur zwei Tage nach den Urwahlen richtet sich alle Aufmerksamkeit auf die Parlamentswahlen, die am gleichen Tag wie die Präsidentschaftswahlen, also am 17. November 2013, stattfinden werden. Trotz vielfältiger Bemühungen um eine Reform des binominalen Wahlrechts werden auch die kommenden Wahlen wieder nach dem alten Muster stattfinden. Dadurch, dass dieses Wahlrechts bei zwei gleich starken Bündnissen immer zu einem Patt führt, sind beide Präsidentschaftskandidaten, Bachelet wie Longueira, zurzeit bemüht, Einfluss auf die Aufstellung der Kandidaten ihrer Koalitionen zu nehmen. Das Augenmerk ist dabei vor allem darauf gerichtet, in dem einen oder anderen Wahlkreis sog. doblajes zu erreichen, also beide Sitze, die in einem Wahlkreis zu erringen sind, zu erobern. Extrapoliert man das Ergebnis der Urwahlen, so könnte die „Nueva Mayoría“ in 5 oder mehr Wahlkreisen (insbesondere in der II., IV. und VIII. Region sowie in der Region Magallanes) beide Mandate erzielen. Dies wäre notwendig, um eine stabile Mehrheit im Kongress zu erreichen, ohne die das ehrgeizige Programm der neuen Mitte-Links-Koalition nicht durchzusetzen ist.

Ist ein Regierungswechsel im November denkbar?

Nach den Ergebnissen der Urwahlen vom 30. Juni ist nicht ausgeschlossen, dass die derzeitige Mitte-Rechts-Regierung des Staatspräsidenten Sebastián Piñera ein Zwischenspiel bleibt. Die niedrigen Popularitätswerte des Präsidenten und seiner Regierung dürften mit zu dem schlechten Abschneiden der Kandidaten der beiden Regierungsparteien UDI und RN beigetragen haben. Piñera scheint jedoch entschlossen zu sein, die Wahlkampagne von Longueira nach Kräften zu unterstützen. So sollen z.B. demnächst die Minister in ihrer freien Zeit dem Kandidaten in den Regionen, aus denen sie stammen, zuarbeiten. Longueira setzte zudem in seinen Verhandlungen mit dem Präsidenten durch, dass Berater, die derzeit noch in der „Moneda“ - dem chilenischen Präsidentenpalast - arbeiten, freigestellt werden und sich in das Wahlkampfteam von Longueira integrieren. Piñera selbst wird großes Interesse nachgesagt, die Regierungsgeschäfte einem Nachfolger aus den eigenen Reihen übergeben zu können. Auf diese Weise dürften auch seine Chancen auf eine eventuelle Wiederwahl in vier Jahren steigen. Auf der anderen Seite gibt es etliche im Bündnis der „Nueva Mayoría“, die an einen Erfolg von Michelle Bachelet bereits im ersten Wahlgang bei den Präsidentschaftswahlen am 17. November glauben. Dies um Anlass nehmend, versuchte die ehemalige Staatspräsidentin sofort zu beschwichtigen: „Das Rennen um die Präsidentschaft ist noch längst nicht entschieden. Der schlimmste Fehler, den wir im Moment - sosehr wir uns freuen - machen können, wäre der, in unseren Anstrengungen nachzulassen“. Denn es gibt noch mehrere andere Präsidentschaftskandidaten, die entweder unabhängig sind oder Parteien angehören, die nicht an den Urwahlen teilgenommen haben. Hierzu zählen Marco Enríquez-Ominami (PRO), der bereits bei den Präsidentschaftswahlen des Jahres 2009 kandidiert hat und damals auf Anhieb auf 20 % der Stimmen gekommen ist, ferner Marcel Claude (Partido Humanista), Franco Parisi (Unabhängig), Thomas Jocelyn-Holt (Unabhängig) und Alfredo Sfeir (Partido Ecologista Verde). Zusammen könnten alle diese Kandidaten auf ca. 10 % der Stimmen kommen.

Beginn eines neuen politischen Zyklus in Chile?

In einem Artikel am 29. Juni in der Zeitung „La Tercera“ wirft der bekannte Publizist Alvaro Vargas Llosa die Frage auf, ob ein neuer politischer Zyklus in Chile bevorsteht. Ursächlich dafür sieht er weniger einen eventuellen Regierungswechsel nach den Präsidentschaftswahlen im kommenden November, sondern vielmehr als Antwort auf einen tiefgreifenden Wandel im Lande. Denn einigen Beobachtern zufolge deutet der Linksrutsch in der chilenischen Gesellschaft (wie das Erstarken der linken Kräfte in der „Nueva Mayoría“) auf den Beginn einer neuen Ära nach vier Regierungen der Concertación, Rückkehr der Rechten an die Macht und damit dem Ende einer langen Transition zur Demokratie hin. Vargas Llosa teilt diese These nicht, sondern sieht einen Linksrutsch eher in linken Kreisen in Chile, abzulesen an einem steigenden Protagonismus, den die Linke in jüngster Zeit im öffentlichen Leben Chiles an den Tag gelegt hat, indem sie die Mitte-Rechts-Regierung des Präsidenten Piñera dazu veranlasst hat, soziale Reformen vorzunehmen, oder an ihren Forderungen nach einer neuen Verfassung, nach kostenloser Erziehung und einer Steuerreform, wie sie derzeit im Programm der Kandidatin der „Nueva Mayoría“ zu finden sind. Mehr als in ihrer früheren Regierung wird es - sollte Bachelet tatsächlich siegreich aus den kommenden Präsidentschaftswahlen hervorgehen - auf ihre Fähigkeit ankommen, diesen schwierigen Prozess zu moderieren. Dies bedeutet jedoch noch lange nicht, dass damit automatisch ein neuer politischer Zyklus in Chile anbricht. Vielmehr wird es darauf ankommen, die neuen Ansprüche und Erwartungen in die weiter bestehende etablierte Ordnung aufzunehmen. Dies in einer Gesellschaft, der es ökonomisch von Tag zu Tag besser geht, die jedoch zu dem Schluss gekommen ist, dass ihr Staat nicht entsprechend mitgewachsen ist und deshalb tiefgreifender Reformen bedarf. In den Worten von Carlos Peña, dem Rektor der Universidad Diego de Portales, heißt dies, dass aufgrund der materiellen und kulturellen Änderungen, die Chile in den letzten Jahren erfahren hat, nun endlich die Ideen, die die Modernisierung legitimieren, nämlich Chancengleichheit und Meritokratie, umgesetzt werden müssen.

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Andreas Michael Klein

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Leiter des Regionalprogramms Politikdialog Asien

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22. Januar 2013
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Der Palast des chilenischen Präsidenten | Foto: Benjamin Mejias Valencia/ Flickr Benjamin Mejias Valencia/ Flickr

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