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Länderberichte

Die christlichen Kirchen in Estland

von Thomas Schneider

Eine Bestandsaufnahme

Die estnische Transformation weg von einer sozialistischen Sowjetrepublik hin zu einer freiheitlich-liberalen von Marktwirtschaft geprägten Demokratie lässt sich ohne jeden Zweifel als Erfolgsgeschichte bezeichnen. Das Geheimnis dieses gelungenen Wandels beruht nicht zuletzt auch auf gesellschaftlichen Werten der Esten, wie Leistungsbereitschaft und Bescheidenheit im Sinne der von Max Weber definierten protestantischen Arbeitsethik.

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Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist vor allem die fast zwei Jahrzehnte anhaltende positive Einstellung der Bevölkerung bezüglich teils harter Reformen. Nichtsdestotrotz gibt es wachsende Unzufriedenheit, auch hinsichtlich politischer Akteure. Durch einen Einbruch der Wirtschaftsleistung von insgesamt 18 % und einer Arbeitslosenquote von 17 % bei steigenden Preisen wurde die estnische Bevölkerung während der Eurokrise (2008 und 2009) hart getroffen. Die empfundene Abstinenz der christlichen Kirchen während der Diskussionen zu Reformen und gesellschaftlicher Perspektive soll Ausgangspunkt für eine Bestandsaufnahme hinsichtlich der Rolle der christlichen Kirchen in Estland sein und zudem Möglichkeiten aufzeigen, wie diese eine prägende Rolle im gesellschaftlichen Zusammenspiel Estlands einnehmen könnten.

 

22 Jahre nach Wiedererlangung der estnischen Unabhängigkeit lässt sich eine gewisse Reformmüdigkeit ausmachen. Diese liegt vor allem darin, dass die Erwartungen der Menschen an den eigenen Staat hinsichtlich der Verbesserung ihrer Lebensstandards gewachsen sind. Somit bestätigt sich auch hier die Erkenntnis, dass die Anforderungen der Bevölkerung an sozioökonomische Standards im Laufe von Transformationsprozessen kontinuierlich zunehmen. Ein Blick auf die Zahlen belegt, dass die aktuelle Staatsverschuldung Estlands zwar gerade einmal 10,1% beträgt, die Sozialleistungen des Staates allerdings nur bei 18,1% liegen. Als weiterer Faktor hat das Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung zu Gunsten eines steigenden Wohlstandsverlangens abgenommen, was wiederum in Estlands nunmehr zehnjähriger Westbindung durch die Mitgliedschaft in der NATO begründet liegt. Ein weiteres Beispiel der Unzufriedenheit mit politischen Akteuren war eine „Charta für mehr Demokratie“ im Jahr 2012, die vor allem Ausdruck zivilgesellschaftlicher Akteure gegenüber den Parteien war.

 

In den gesellschaftspolitischen Diskussionen spielt außerdem die Frage der sozialen Verantwortung des Staates sowie der Unternehmer eine zunehmende Rolle. Hier lassen sich erste Anzeichen eines Wertewandels in der estnischen Gesellschaft ausmachen. Im Mittelpunkt des Wertefundaments der neuen estnischen Gesellschaft steht, entgegen eines vormalig oktroyierten Kollektivs, die Individualität und Freiheit eines jeden Einzelnen. Die andauernde Relevanz dieser Werte lässt sich auch daran erkennen, dass die liberale Reformpartei über viele Jahre hinweg die stärkste Kraft in der estnischen Staatsversammlung, dem Riigikogu, darstellt.

 

Bezüglich des Wertefundaments in Estland sollte festgehalten werden, dass die Gesellschaft über Jahrhunderte hinweg vom Christentum mit seinen Normen und Werten geprägt wurde. Obwohl weite Teile der Bevölkerung nach wie vor christliche Werte als einen Bestandteil ihres Sozialisationsprozesses erfahren und wahrnehmen, stellt sich die Frage, warum sich die Kirche in öffentlichen Debatten weitestgehend zurückhält und damit keine nennenswerte Rolle im gesellschaftspolitischen Diskurs einnimmt. Dies soll mit einer nachfolgenden historischen Perspektive als einer Determinanten für Estlands heutzutage stark ausgeprägte Säkularisierung betrachtet werden.

 

Historische Entwicklungen von Religion und Kirche in Estland

 

 

Die Rolle der Religion im heutigen Estland und damit die Bedeutung der Kirchen in der heutigen Gesellschaft wurde maßgeblich durch die Weltkriege, den Kalten Krieg sowie den Zusammenbruch der Sowjetunion geprägt.

 

Zwischen 1686 bis 1832 nahm die lutherische Kirche eine prägende Rolle für die Bevölkerung ein. Während der 1930er Jahre genossen beide Kirchen eine besondere Behandlung durch den Staat, obwohl das Gesetz zur religiösen Toleranz von 1905 dazu führte, dass Estland multikonfessionell geprägt war bzw. noch heute ist. Trotzdem bezeichneten sich bei einer Volkszählung von 1934 ca. 80% der Bevölkerung als Lutheraner. Dieser Wert verringerte sich im Zweiten Weltkrieg. Zu dieser Zeit war es schwierig, Religion und Glaube frei auszuüben, zumal zahlreiche Gotteshäuser zerstört wurden.

 

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges folgte eine atheistisch geprägte Kontrolle und Überwachung der Religionsausübung durch die Sowjetmachthaber. Dies führte zu Unterdrückung von Religionsfreiheit und machte es unmöglich, den religiösen Frieden, welcher in Estland nach der Unabhängigkeit 1918 noch herrschte, aufrechtzuerhalten. Wenngleich die Religionsausübung unter deutscher Besatzung litt, so verloren die christlichen Kirchen bereits durch das 1918 erlassene Dekret „Über die Trennung der Kirche vom Staat und der Schule von der Kirche“ zahlreiche Mitglieder. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Unabhängigkeit in Estland kam es bedingt durch einen generellen Umbruch in der Politik zu einer Renaissance des Christentums. Heute wird in der estnischen Verfassung die Freiheit des Glaubens und der Weltanschauung gewährleistet (Art. 40 der Verfassung).

 

Im Gegensatz zur Vergangenheit wird die Bevorzugung bestimmter Religionen durch eine liberal ausgestaltete Religionsgesetzgebung ausgeschlossen.

Was die religiöse Bindung betrifft, so gaben im Jahr 2000 40% der Bevölkerung an, eine evangelisch-lutherische Identität zu besitzen. Nach einer Umfrage von 2002 spielte für 51% der Befragten die Religion eine wichtige Rolle in ihrem Leben. In einer Umfrage aus dem Jahre 2011 gaben nur noch 29% an, Mitglied in einer Kirche zu sein. Inzwischen gilt die orthodoxe Kirche mit 177.000 Mitgliedern als die größte Kirche in Estland, die damit in den letzten 13 Jahren um fast 23 Prozent gewachsen ist. Die lutherische Kirche besitzt eine Gemeinde von 108.000 Gläubigen, mit Verlusten von ca. 28 Prozent.

 

Ein Grund für diese gegenläufige Entwicklung liegt in der offensichtlichen Verquickung konfessioneller Zugehörigkeit und ethnischer Identität. Ethnische Esten verbanden in den Anfangsjahren mit der wiedergewonnenen staatlichen Souveränität die Zugehörigkeit zur evangelisch-lutherischen Kirche. Diese Verbindung hat seit Mitte der 1990er Jahre durch die fortschreitende Unabhängigkeit und Transformation umgekehrt proportional zur ethnisch-russischen Identität an Bedeutung verloren, welche sich heutzutage in einem zunehmend stärkeren Bekenntnis zur russisch-orthodoxen Kirche manifestiert. Unzufriedenheit mit konservativen Standpunkten der lutherischen Kirche sowie administrative Faktoren wie etwa der Kirchenbeitrag mögen ebenfalls ihren Teil zu dieser Entwicklung beigetragen haben.

 

Die Rolle der Kirchen Estlands im 21. Jahrhundert

 

 

Der historische Kontext ist eine Erklärung dafür, warum Estland heute oft als eines der säkularsten Länder bezeichnet wird. Es ist heutzutage vor allem die jüngere Generation der Esten, welche mit einem Wertewandel hin zu Individualität und Konsum kaum mehr einen Bezug zur Religion hat. Ein Grund hierfür ist die Tatsache, dass Religion im familiären Leben keine bedeutende Rolle spielt und damit nicht gelebt wird. Somit kann Religion bezogen auf Wertebildung im Sozialisations-prozess nicht direkt beitragen.

 

Die Heranführung der jungen Generation in Estland an christliche Werte und Traditionen gestaltet sich schwierig, da es etwa in den Schulen keinen verpflichtenden Religionsunterricht gibt. Zudem wird dieser längst nicht an allen Schulen angeboten, was zur Gründung einiger christlicher Schulen in Estland geführt hat. Auf politischer Ebene wird dieser durch die konservativen Kräfte gefordert, eine Einführung scheint jedoch in weiter Ferne. Generell spielt Religion in der estnischen Politik keine prägende Rolle, da keine religiöse Konfliktlinie in der Parteienlandschaft existiert.

 

Vielmehr wird im öffentlichen Raum stets die Trennung von Staat und Kirche artikuliert, sowie durch Verweis auf die Kreuzzüge des 13. Jahrhunderts im Baltikum verbale Agitation gegen eine angebliche „Einmischung“ der Kirche in staatliche und gesellschaftliche Angelegenheiten betrieben. Neben fehlender Unterstützung von politischer Seite herrscht Uneinigkeit bezüglich der Übernahme sozialer Aufgaben der Kirchengemeinde im gesellschaftlichen Kontext. So scheinen innerkirchliche Fragestellungen und Streitigkeiten von höherer Priorität als die Bereitschaft zur Stärkung der kirchlichen Arbeit in der Zivilgesellschaft. Es handelt sich bei dieser Auseinandersetzung um die Position und Aufgabe der Kirchen jedoch für keine der etablierten estnischen Parteien mit Blick auf die eigene Wählerklientel um eine attraktive Diskussion. Um die aktuelle Situation anders zu gestalten, müssten sich die Kirchen trotz der beschriebenen Widerstände aus Politik und den eigenen Reihen stärker für einen verpflichtenden Religionsunterricht einsetzen. Es bedarf ebenfalls einer Debatte darüber, wie ein solcher gestaltet und unterrichtet werden sollte. Zudem sollte ein Fokus auf die theologische Ausgestaltung, Ausbildung sowie die Schulung von Lehrpersonal gelegt werden.

 

Was ihre politische Präferenz betrifft, so sind die christlichen Kirchen in Estland politisch konservativ und fühlen sich damit konservativen politischen Kräften verbunden. Die russisch-orthodoxe Kirche des Patriarchats Moskau hat eine Präferenz gegenüber der Zentrumspartei, die sich sicherlich auch aus starker Verankerung der Partei unter ethnischen Russen begründet. Auffallend ist auch, dass die Kirchen im Allgemeinen vorzugsweise keine Stellung zu politischen Themen einnehmen. Ihre Zurückhaltung richtet sich auch auf gesellschaftspolitische Themen. Dies zeigt sich auch in der in ihrem Interesse stehenden beschriebenen öffentlichen Diskussion zu Religion und Gesellschaft. Vielmehr ist zu beobachten, dass sich die Kirchen fast ausschließlich zur Bedeutung und zur Rolle der Familie in der Gesellschaft äußern. Um jedoch eine bessere Wahrnehmung in der Öffentlichkeit zu erreichen, oder sogar Teil dieser zu werden, müssen die Kirchen zwecks eigener Profilschärfung diese politische Enthaltsamkeit ablegen und ihre Standpunkte zu gesellschaftspolitischen Fragen klarer und deutlicher vertreten. Dabei sollte neben bekannten traditionellen Themen wie etwa der Familie eine gleichzeitige Fokussierung auf aktuelle Entwicklungen in der estnischen Gesellschaft stattfinden, um so eine Brücke zwischen den Kirchen und der Gesellschaft auszubauen.

 

Eine bedeutendere Rolle spielt die Kirche dagegen auf dem Gebiet der Sozialfürsorge. Partner sind hierbei weniger die Kirchen als Dachverbände sondern vielmehr die jeweiligen Kirchengemeinden vor Ort, was ebenfalls einen historischen Hintergrund besitzt. In der Sowjetunion war nicht nur die Kirchentätigkeit an sich, mit Ausnahme der Gottesdienste, sondern auch Einrichtungen der Diakonie verboten. Um in diesem Bereich eine größere Rolle einzunehmen, müssen die einzelnen Religionsgemeinschaften ihre physische Präsenz und somit ihre Sichtbarkeit im Land ausbauen, damit konkrete Anlaufstellen zur Kontaktaufnahme existieren. Mit diesem Schritt wäre eine verbesserte und gezielte Unterstützung durch den Staat möglich, wodurch die Kirchen die Chance hätten, landesweite soziale Projekte zu realisieren und damit ihre Wahrnehmung als Sozialplattform und Anlaufstelle in der Bevölkerung zu vergrößern.

 

Ausblick

 

 

Der öffentliche Diskurs der letzten Jahre zu gesellschaftlichen Veränderungen bietet eine gute Ausgangsbasis für die Kirchen um ihre Position innerhalb der Gesellschaft auszubauen. Gerade in einer gesellschaftspolitischen Debatte zu Chancengerechtigkeit, Solidarität und Mitsprache können Kirchen eine wichtige Rolle einnehmen und selbst Plattform sein. Sie könnten damit an Bedeutsamkeit gewinnen und eine Vermittlerrolle zwischen Staat und Gesellschaft für Themen einnehmen, bei denen sie sowohl Deutungshoheit als auch Themenkompetenz vorzuweisen haben. Dabei bedarf es zwingend eines Ausbaus des kirchlichen Engagements auf gesellschaftlicher und politischer Ebene, um die potentielle Rolle der Kirche innerhalb der Gesellschaft Estlands ausfüllen zu können. Gerade auf dem Feld der Diakonie und Sozialfürsorge bieten sich den Kirchen Möglichkeiten für zahlreiche gesellschaftsrelevante wichtige Aktivitäten im Rahmen ihrer christlichen Normen und Werte, welche ihre Außendarstellung sowie ihre innergesellschaftliche Rolle aufwerten würden. Als unabhängige und politisch neutrale Institutionen könnten die Kirchen zudem Lösungen zu aktuellen sozialen Problemen anbieten und somit langfristig zu einem bedeutenderen Teil der estnischen Gesellschaft werden.

 

Dafür muss die Kirche ihre Standpunkte klar definieren und vertreten sowie sich in die aktuellen gesellschaftlichen Debatten einbringen, um so zu einer treibenden Kraft der Zivilgesellschaft Estlands aufsteigen zu können. Widerstände bezüglich kirchlichen Engagements im öffentlichen Diskurs sollten dabei keineswegs als Hindernis, sondern vielmehr als willkommene Einladung oder sogar Herausforderung im Diskurs über die Deutungshoheit bezüglich der entscheidenden Normen und Werte innerhalb der heutigen Gesellschaft Estlands angenommen werden. Ein interessanter Aspekt wäre auch die stärkere überkonfessionelle Zusammenarbeit als einem Vorbild für eine Überwindung ethnischer Trennlinien in einem der kleinsten EU-Mitgliedsländer. Steigende Mitgliederzahlen der russisch-orthodoxen Kirche sollten als Herausforderung für die Gesellschaft gelten und Mahnung für ein intensiveres Interesse füreinander.

 

Das Christentum hat über Jahrhunderte die Leben der Menschen in Estland begleitet und ihr Wertefundament sowie Standards des Zusammenlebens bis heute geprägt. Es gibt bei einer entsprechenden hier aufgezeigten Ausrichtung keine Zweifel oder Gründe, dass die christlichen Kirchen nicht auch im 21. Jahrhundert ihren gesellschaftlichen Beitrag in der nördlichsten Gesellschaft des Baltikums leisten könnten.

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