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Referendum in Venezuela: Niederlage auch für die Medien

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Der frühe Morgen des 16. August 2004 wird den Journalisten in Venezuela noch lange in Erinnerung bleiben. Die meisten verbrachten die Nacht in ihren Redaktionen. Viele sind zu diesem Zeitpunkt bereits seit 20 Stunden auf den Beinen. Den ganzen Sonntag über hatten sie über den Verlauf des landesweiten Referendums berichtet.

Die Abstimmung war von der Opposition initiiert worden. Gut 14 Millionen Wahlberechtigte sollten über die Absetzung von Präsident Hugo Chávez entscheiden. Für die venezolanischen Medien ein Großeinsatz.

Hunderte Reporter berichteten aus allen Landesteilen. Für sie steht auch ohne offizielle Zahlen schnell fest, daß die Wahlbeteiligung überwältigend sein müsse. In den live ausgestrahlten Sondersendungen präsentieren sie Menschen, die bei Öffnung der Wahllokale bereits vier Stunden geduldig auf die Stimmabgabe warten. Ab dem späten Vormittag schlängeln sich die Menschenmassen an den Häuserblocks entlang. Es scheint so, als gebe es niemanden, der an diesem Sonntag andere Pläne hat; überall dort, wo sich kein Wahllokal befindet, zeigt das Fernsehen menschenleere Straßen. Am Mittag richten sich die Kameras der privaten TV-Kanäle auf einen jungen Mann im weißen T-Shirt, der sich lautstark über den äußerst schleppenden Fortgang des Referendums beschwert. Eine kleine Gruppe im Hintergrund applaudiert. Alle anderen bleiben ruhig, lesen, unterhalten sich miteinander, schwitzen in der Sonne.

Am Nachmittag dann Nachrichten aus dem Büro der Wahlbehörde: Erst heißt es, die Abstimmungslokale sollen wegen des großen Andrangs erst um 20:00 Uhr schließen. Kurz darauf wird die letzte Möglichkeit zur Stimmabgabe auf 22:00 Uhr verschoben. Danach ist Mitternacht vorgesehen.

In der Lobby des Gran Meliá warten Reporter darauf, Jimmy Carter entweder beim Verlassen oder Betreten des Hotels für eine kurze Stellungnahme abzugreifen. Die Bodyguards des früheren US-Präsidenten halten jeden näher Kommenden auf Abstand. In einer Pressekonferenz am Nachmittag teilt Carter mit, seine Wahlbeobachter hätten bisher keine Unregelmäßigkeiten festgestellt. Alles laufe ordnungsgemäß.

Kurz vor 18:00 Uhr klingeln bei den Journalisten die Mobiltelefone. Erste Zahlen kursieren: 60 Prozent der Wahlberechtigten seien für die Absetzung des Präsidenten. Alles spreche für einen Sieg der Opposition. Aber noch immer keine Hochrechnungen. Die Wahlbehörde will nicht einmal eine Tendenz bestätigen.

Am späteren Abend interviewen die Reporter Menschen, die inzwischen bereits zwölf Stunden auf die Stimmabgabe warten. Die Sonne, sagen die Wähler, sei anstrengend gewesen und sie seien erschöpft. Und noch immer sind die Straßen ruhig.

Die Redakteure der Tageszeitungen machen sich Gedanken darüber, ob das Abstimmungsergebnis für die Montagsausgabe noch rechtzeitig kommt. Präsident Chávez wolle vermutlich, vielleicht, hoffentlich noch eine Rede halten. Aber ohne Zahlen? Ein Journalist glaubt gehört zu haben, daß Chávez am Montag in die Dominikanische Republik reisen wolle. Die Aufregung vom Tag des Referendums weicht der Müdigkeit.

Ab 03:47 Uhr geht dann alles ganz schnell: Francisco Carrasquero, Präsident der Wahlbehörde, verkündet das vorläufige Ergebnis nach Auszählung von knapp 95 Prozent der abgegebenen Stimmen. Gut 58 Prozent der Wähler hätten sich für, und nur knapp 42 Prozent gegen Chávez ausgesprochen. Wenige Minuten später tritt der Staatschef auf den Balkon des Präsidentenpalastes und läßt sich von einigen hundert begeisterten Anhängern feiern. Alle nationalen TV- und Radiokanäle sind zugeschaltet. Kurz darauf knallen Feuerwerkskörper.

Noch während Chávez redet, gibt die Opposition ein völlig anderes Ergebnis, und zwar zu ihren Gunsten, bekannt. Sie fordert die erneute Auszählung der Stimmen.

Für die in- und auch die ausländischen Medien aber ist Chávez die Top-Nachricht. Um 06:05 Uhr venezolanischer Zeit meldet Reuters: „Chavez übersteht Referendum mit 58 Prozent der Stimmen“. Fast alle anderen Presseagenturen ziehen mit. Fotos vom Präsidenten in Siegerpose auf dem Balkon gehen um die Welt.

Zwar hatten sich zwei leitende Mitglieder der Wahlbehörde schon kurz vor der offiziellen Bekanntgabe des vorläufigen Ergebnisses von der Entscheidung distanziert. Die Gegner aber nannten zu diesem Zeitpunkt keine Zahlen. Doch nur die sind eine echte Neuigkeit nach einem solchen Wahl-Marathon und ständig wiederkehrenden Bildern von geduldigen Menschen in langen Warteschlangen, nach nächtlichen Stunden voller Gerüchte und gegenseitiger Anschuldigungen ohne Beweise. Außerdem fehlten ein Balkon und jubelnde Angehörige der Opposition.

Die Proteste der Chávez-Gegner am Morgen nach dem Referendum kommen wie bestellt und sind keine Überraschung. Alle Augen richten sich deshalb auf die internationalen Wahlbeobachter. Würde auch das Carter-Zentrum oder die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) von Wahlbetrug sprechen? Aber nichts kommt. Der Ölpreis ist längst gefallen. In der Lobby des Gran Meliá kursiert unter den Journalisten das Gerücht, Jimmy Carter und OAS-Generalsekretär César Gaviria seien unterschiedlicher Meinung. Das Gerücht eben. Um 12:00 Uhr dann endlich die Pressekonferenz.

Die kleine Bühne an der Rückseite des Saales hat längst keinen Platz mehr für alle Kameras. Reporter drängeln sich in den Gängen zwischen den Stuhlreihen. Vom Podium aus bittet der Veranstalter um Disziplin. Carter und Gaviria lassen noch auf sich warten, da verschafft sich ein Dutzend Demonstranten Zugang zum Saal. Die Gruppe hält Plakate hoch und skandiert „Betrug“. In Sekundenschnelle sind die Protestanten von Kameras umzingelt. Im Tumult teilt der Veranstalter mit, die Pressekonferenz sei abgesagt.

Um 13:30 Uhr versammeln sich die Journalisten erneut. Das Hotel ist abgeriegelt. Sicherheitskräfte kontrollieren die Zugänge zum Saal. Etwa 100 Anhänger der Opposition demonstrieren vor dem Gran Meliá auf der Straße. Eine Mitarbeiterin der Nichtregierungsorganisation SUMATE versichert, daß für den Wahlbetrug jetzt die Beweise geliefert würden. Die Europäische Union solle sich nicht hinters Licht führen lassen. Ein Journalist zuckt kurz mit den Schultern und richtet den Blick dann wieder auf das Podium.

Fünf Minuten später steht fest, daß keine Beweise geliefert werden. Carter und Gaviria erklären gemeinsam, daß die Zahlen der ausländischen Wahlbeobachter mit denen der Wahlbehörde weitestgehend übereinstimmten.

Ein Großteil der ausländischen Korrespondenten will noch bis Mittwoch bleiben. Nach der Bestätigung des vorläufigen Ergebnisses durch die internationalen Wahlbeobachter ist klar, daß die Straßen von Caracas spätestens ab der Nacht zum Dienstag nicht mehr so ruhig sein werden.

Einige Korrespondenten bemühen sich um ein Interview mit Präsident Chávez. Er ist der Sieger, nicht nur im Kampf um die Wählergunst, sondern auch im Ringen um die Schlagzeilen.

Das ist es, wovon für viele Regierungen in Lateinamerika die eigentliche Botschaft ausgeht. Populismus funktioniert nicht ohne die Medien. Das Wählervotum ist das eine, über den Sieg gegen alle Widerstände aber entscheidet geschickte Dramaturgie, das richtige Timing, Überraschung, der Moment auf dem Balkon.

Die Chefs der chávez-feindlichen privaten Medien in Venezuela müssen sich auf einiges gefasst machen. Die Ankündigung des Präsidenten, seine „bolivarianische Revolution“ nach diesem Sieg noch vertiefen und ausweiten zu wollen, verheißt nicht Gutes. Zu unverholen und polemisch hatten sich die kommerziellen Sender und viele Zeitungen auf die Seite der Opposition geschlagen. Von möglichst objektiver Berichterstattung und seriösem Journalismus konnte aller berechtigter Kritik zum Trotz nur selten die Rede sein. Hugo Chávez in dieser Weise weiterhin als „Diktator“ zu bezeichnen, dürfte zumindest im Ausland künftig weniger Wirkung zeigen.

Im Land selbst wird sich der eine oder andere Medienchef Gedanken um seine berufliche Zukunft machen müssen. Die von weiten Teilen der Presse vorangetriebene Polarisierung der venezolanischen Gesellschaft schnellt, kaum daß Chávez alle Bürger nach dem Referendum zur Versöhnung aufgerufen hat, zurück wie ein Boomerang. Es bleibt zu hoffen, daß die Abstimmung nicht nur von den Kommunikationsexperten der lateinamerikanischen Regierungen, sondern unter diesem Gesichtspunkt auch von den Medien des Subkontinents analysiert wird.

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17. August 2004
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