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Länderberichte

Rothschild ist nicht Tahrir

von Dr. Nadine Carlson (geb. Mensel)

Hintergründe zu den Protesten in Israel

Israel erlebt momentan eine der größten Protestbewegungen in der Geschichte des Landes. Vor einigen Wochen starteten Studierende und junge Menschen in Tel Aviv lose Einzelaktionen gegen hohe Mieten und teuren Wohnraum.

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Mittlerweile haben sich nicht nur in allen größeren israelischen Städten ähnliche Gruppierungen gebildet, auch das Themenspektrum der Demonstrationen hat sich erweitert. Eltern – zumeist junge Paare – äußern ihren Unmut angesichts hoher Vorschulgebühren und Kinderbetreuungskosten, Lehrer beklagen ihren rechtlichen Status als Scheinselbständige, Ärzte und Pflegepersonal streiken für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen. Am 30. Juli 2011 waren landesweit mehr als 150.000 Bürger auf der Straße. An den Kundgebungen am Wochenende darauf nahmen schätzungsweise 300.000 Menschen teil.

Auffällig ist, dass die israelischen Medien unabhängig von ihrer politischen Grundausrichtung mit positivem Tenor über die Ereignisse berichten. Doch keinesfalls sollte diese Proteststimmung im Land mit den revolutionären Ereignissen in Israels arabischen Nachbarländern verwechselt werden. Dort kämpfen die Menschen gegen autoritäre Regime, Korruption und Willkür der Sicherheitskräfte, für Freiheit und Würde, für bessere Lebensbedingungen und Arbeitsplätze. Der Rothschild-Boulevard in Tel Aviv, der zurzeit an ein Zeltlager erinnert, ist nicht der Tahrir-Platz in Kairo.

Viele Kommentatoren und Korrespondenten sehen dennoch einen Zusammenhang zum „Arabischen Frühling“, weil sich diese Analogie aufgrund der zeitlichen Umstände und der geografischen Nähe scheinbar aufdrängt. Eine Parallele besteht gewiss darin, dass sich auch in Israel ein Unmut entlädt, der sich schon seit Längerem aufgestaut hat. Eine andere darin, dass der Protest von einer breiten bürgerlichen Mittelschicht getragen wird.

In einem bemerkenswerten Op-ed für Haaretz erklärt der an der Hebräischen Universität lehrende Ökonom Bernard Avishai, „dass die Atmosphäre auf dem Planeten Netanyahu uns allmählich ersticken lässt“:

  • So seien bereits über 20 Milliarden US-Dollar für Siedlungen und Infrastruktur in den besetzten Gebieten ausgegeben worden, während dem Verkehrssystem in den Küstenregionen der Infarkt drohe.
  • Die Bildungsinfrastruktur befinde sich in einem ernstzunehmenden Niedergang. In Gymnasialklassen säßen durchschnittlich 30 bis 40 Schüler. Universitätsbudgets seien gekürzt worden. Dennoch konzentriere sich die Regierung Netanyahu auf „zionistische“ Lehrplaninhalte statt auf die Förderung eigenständigen Denkens in einer wissenschaftsgetriebenen Wirtschaft.
  • Die israelische Beschäftigungsquote gehöre zu den niedrigsten innerhalb der OECD – rund 56 Prozent im Vergleich zu beispielsweise 68 in Japan. Das liege weitgehend an der traditionellen Politik des Likud und anderer Parteien auf der Rechten, ultraorthodoxe Jeschiwa-Studenten nicht ausreichend in den Arbeitsmarkt zu integrieren.
  • Hauptverantwortlich für die hohen Grundstückspreise sei die „Israel Lands Administration“ (ILA), die ca. 90 Prozent des staatseigenen Bodens für „das jüdische Volk“ verwalte und die Tradition des „Jewish National Fund“ fortsetze: Privatisierung und Versteigerung von Land wären jedoch notwendig, um die Kosten des Wohnungsbaus und des Wohnens zu senken. Aber das würde bedeuten, dass arabische Gemeinden hierzulande wesentlich mehr Boden für ihre eigene Entwicklung erwerben könnten – ein Gedanke, der für die israelische Rechte inakzeptabel sei.
  • Die Lebensqualität werde durch unterschwellige Kriegsangst gemindert. Eine Million israelischer Juden lebten heute im Ausland; es handele sich um außergewöhnlich gut ausgebildete Leute, die in der Lage wären, daheim Unternehmen zu gründen.
Israels hohes Maß an Ungleichheit, so Avishai, sei weniger ein Ausdruck ökonomischer Ungerechtigkeit als ein Zeichen dafür, wie sehr die israelische Wirtschaft global verflochten ist. „Unser Wachstum wird getrieben von Hochtechnologie-Exporten bei Software, wertsteigernden Komponenten, modernstem medizinischem Gerät und anderen ‚Lösungen’. Eben deshalb haben wir ein soziales Profil, das eher dem von Silicon Valley gleicht als dem einer Stadt des produzierenden Gewerbes wie Wolfsburg in Deutschland.“

Träger des Protests

Die Aktivisten der ersten Stunde sind Studenten, junge Berufstätige und Familien, Angehörige der israelischen säkularen Mittelschicht. Was sie antreibt, sind die als zunehmend unsozial empfundenen Verhältnisse in Israel. Der eigentliche Auslöser der Proteste waren drastisch gestiegene Mieten und Immobilienpreise, insbesondere in Tel Aviv und Jerusalem, aber auch die extrem angezogenen Lebenshaltungskosten. Seit 2007 ist beispielsweise der Wohnraum in den beiden größten Städten des Landes um bis zu zwei Drittel teurer geworden. Lebensmittel haben sich im Vergleich zu 2005 um circa 31 Prozent verteuert. In der Europäischen Union waren es demgegenüber zehn Prozentpunkte weniger.

Was diese Gruppe der Protestierenden fordert, ist die Auseinandersetzung mit der Frage, wie sich der Wohlstand in Israel gerechter verteilen ließe. Denn die momentane Lage ist zugleich Ausdruck eines Paradoxons: Die israelische Wirtschaft boomt, das Wachstum liegt bei gegenwärtig mehr als 5 Prozent, und der Blick auf die Arbeitsmarktdaten zeigt ebenfalls einen positiven Trend (weniger als 6 Prozent Arbeitslosigkeit). Allerdings wird es für eine wachsende Zahl von Erwerbstätigen immer schwieriger, mit ihren Einkommen den eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten. Auf ungefähr ein Fünftel wird der Anteil derjenigen Israelis geschätzt, die trotz Arbeit unterhalb des Existenzminimums lebt.

Der Tenor der Forderungen ist daher primär sozioökonomisch. An die Adresse der Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanyahu gerichtet, setzen sich die Demonstranten für ein umfangreicheres soziales Wohnungsbauprogramm und eine Gesetzgebung ein, die Mietern mehr Rechte einräumt. Ferner werden Rufe laut nach der Anhebung der Mindestlöhne auf 50 Prozent des durchschnittlichen Lohnniveaus von 8.700 NIS monatlich.

Nach mehr als drei Wochen anhaltenden Protests hat sich das Teilnehmerfeld ausdifferenziert. Zwar bilden weiterhin mehrheitlich die Angehörigen der jungen säkularen Mittelschicht den Nukleus der Bewegung. Doch treten inzwischen auch religiöse Gruppierungen in Erscheinung ebenso wie Tierschützer, Milchbauern oder Gewerkschafter. Zuletzt hat eine Jugendorganisation der Siedler, die sogenannte Hilltop Youth, für Aufsehen gesorgt. Deren Vorschläge zur Lösung der Wohnungsproblematik konterkarieren die Forderungen der Protestierenden in den Zelten, da sie für die Fortsetzung des Wohnungsbaus im Westjordanland werben.

Anlass zu Unzufriedenheit

Aus diesem einerseits dynamischen, andererseits unübersichtlich werdenden Teilnehmerfeld resultiert die Schwierigkeit, momentan kein klares und eindeutiges Ziel der Protestbewegung erkennen zu können. Was sie jedoch im Wesentlichen eint, ist das Einfordern einer neuen Sozialpolitik, manche Stimmen sprechen sogar von der Notwendigkeit eines neuen Gesellschaftsvertrages. Dabei nährt sich die Unzufriedenheit über die gegenwärtige sozioökonomische Situation in Israel aus drei Richtungen:

  • Die Lastenverteilung in der Gesellschaft: Die säkulare Mittelschicht trägt den überwiegenden Teil des Steueraufkommens. Hinzu kommt die Verantwortung für den Armee- und Reservedienst. Indes profitieren von den staatlichen Ausgaben und Investitionen in erster Linie die ultraorthodoxen Juden und die Siedler im Westjordanland. Sie sind in hohem Maße auf öffentliche Zuwendungen angewiesen und bedürfen wie im Falle der Siedler umfassender und teurer Sicherheitsmaßnahmen. Eine wachsende Zahl säkularer bzw. moderat religiöser Juden will diese als ungerecht empfundene Ungleichheit nicht länger akzeptieren.
  • Die Tycoonisierung der Wirtschaft: Die Privatisierungspolitik der ersten Regierung Netanyahu (1996 bis 1999) erzeugte eine hohe Konzentration von Eigentum. Vormals staatliche Unternehmen gelangten in den Besitz weniger Investoren, die in Israel als Tycoone bezeichnet werden. Heute gehören 16 Familien zwanzig Prozent der 500 führenden israelischen Unternehmen. Marktverzerrungen und ungleiche Wettbewerbsbedingungen waren die Folge. Außerdem setzte ein Immobilienboom ein, der innerstädtischen Wohnraum kontinuierlich teurer werden ließ und zur Verdrängung alteingesessener Mieter führte.
  • Die eingeschränkten Partizipationsmöglichkeiten: Die Demonstranten wollen dem Bild Israels als „Start-up Nation“ entgegentreten. Unbestritten haben viele Firmen und Dienstleister im Hightech-Segment zum Wirtschaftswachstum beigetragen und die Integration Israels in die Weltwirtschaft befördert. Allerdings gibt es von vornherein Bereiche, denen diese Chancen der Globalisierung nicht gegeben sind. Erwerbstätige im Bildungsbereich, im Pflegesektor, kleine und mittelständische Unternehmen leisten einen wertvollen Beitrag für die Volkswirtschaft, für den die dort Beschäftigten Anerkennung einfordern.

Ausblick

Das Spektrum der Interessen, die sich in den Protesten wiederfinden, ist vielfältig. Zum Teil überlagern und ergänzen sie sich, zum Teil stehen sie sich konträr gegenüber. Die Politik steht daher vor der Herausforderung, den Kern der Unzufriedenheit – die ungleiche Lastenverteilung – zu adressieren. Was die Regierung Netanyahu bislang unternommen hat, sind kosmetische Eingriffe, jedoch keine prinzipielle Abkehr von ihrer aktuellen wirtschaftspolitischen Linie.

Polizisten können zum Beispiel mit höheren Löhnen und Rentner mit Heizkostenzuschüssen rechnen. Die Benzinpreise wurden vorerst eingefroren. Ferner erhalten Studierende ermäßigte Ticketpreise für den öffentlichen Nahverkehr sowie die Aussicht auf zusätzliche günstige Wohnheimplätze. Grundsätzlichen Fragen jedoch, etwa die Subventionierung der Ultraorthodoxen oder der Siedler, geht die Regierungskoalition bislang aus dem Weg. Diese beiden Gruppen stellen eine signifikante Wählerschicht für die Regierungsparteien dar, insbesondere für den Likud und für Shas.

Priorität hat aus Sicht der Regierung die Aufrechterhaltung der ökonomischen Stabilität. Würde sie allen sozialen Forderungen der Demonstranten entsprechen, befürchtet sie eine Kostenspirale, die eine Finanzkrise auslösen könnte. Nun wäre es zwar eine Alternative, in die Staatskasse zu greifen und die Sozialausgaben zu steigern. Nachhaltiger sind indes Überlegungen, wie sich das Wirtschaftssystem reformieren ließe. An dieser Stelle wird sich die Regierung wohl nicht von den Positionen einiger Demonstranten beeindrucken lassen, die mitunter für eine Wiederverstaatlichung bestimmter Wirtschaftszweige und höhere staatliche Kontrollen bei der Preisgestaltung eintreten.

Naheliegender ist die Ausweitung des Wettbewerbs, das Aufbrechen von Monopolen und Kartellen, die weite Teile der Wirtschaft dominieren. Außerdem ist die Senkung der Einfuhrzölle längst überfällig, damit Konsumgüter und Lebensmittel in Israel günstiger angeboten werden können. In dieser Hinsicht sind die wirtschaftspolitischen Praktiken in Israel relativ protektionistisch ausgerichtet. Eine Liberalisierung der Märkte würde die einheimischen Produzenten dazu anhalten, ihre wirtschaftlichen Aktivitäten umzustellen und innovativer zu gestalten.

Kurzum: Das Modell der Sozialen Marktwirtschaft muss in Israel stärker denn je beworben werden, der richtige Zeitpunkt dazu scheint gekommen. Die israelische Mittelschicht ist nicht nur zu Demonstrationen bereit, sondern zeigt sich auch leistungsbereit. Aber dieses Engagement müsse sich auch lohnen. Deshalb ist die Politik insgesamt gefragt, darauf Antworten zu finden und in den Dialog mit der Gesellschaft zu treten.

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Veranstaltungsberichte
22. Juli 2011
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"Alle Israelis sind in einem Zelt", Tel Aviv Foto: Mona Grotheer

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