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Länderberichte

The Art of the Deal: Der Brexit Reset nimmt Gestalt an

von Dr. Canan Atilgan, Sebastian Schnorrenberg

Ein neues Kapitel in der europäisch-britischen Partnerschaft

Vor knapp zehn Jahren rief Premierminister David Cameron das Brexit-Referendum aus. Im Juni 2016 stimmte eine knappe Mehrheit (51,9%) der britischen Bevölkerung für den EU-Austritt. Auf Camerons Rücktritt folgten fünf Premierminister, die sich mit den Folgen dieses historischen Votums auseinandersetzen mussten. Am Montag, den 19. Mai 2025, konnte Premierminister Keir Starmer schließlich als Gastgeber des ersten offiziellen EU-UK-Gipfels nach dem Brexit gemeinsam mit Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Ratspräsident Antonio Costa eine neue strategische Partnerschaft zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU verkünden.

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Ein „Win-Win“

Bereits bei Amtsantritt hatte Starmer eine Annäherung an die EU zu einer außenpolitischen Priorität erklärt. Nun präsentierte er konkrete Ergebnisse: Nach monatelangen Vorbereitungen unterzeichneten die EU und das Vereinigte Königreich eine „Gemeinsame Erklärung“, eine „Sicherheits- und Verteidigungspartnerschaft“ sowie eine „Absichtserklärung zu einer erneuerten Agenda für das Vereinigte Königreich und die EU“. Tatsächlich ist der Umfang der Einigung beachtlich. Die Tiefe der erzielten Vereinbarungen ist derzeit Gegenstand der Debatte in politischen und wirtschaftlichen Zirkeln. Für die einen geht die Kooperation zu weit, für die anderen sind die Ergebnisse zu oberflächlich. Für Premierminister Starmer ist das Ergebnis eindeutig: ein „Win-Win“, das Großbritannien zurück auf die Weltbühne bringt.

Neben verteidigungspolitischer Kooperation wurden Vereinbarungen in den Bereichen Veterinärstandards, Fischereirechte, Jugendmobilität und Energiekooperation getroffen. Dass ein Durchbruch überhaupt möglich wurde, war nicht selbstverständlich: Im Vorfeld galt es, eine Reihe von Streitpunkten auszuräumen, die das Verhältnis zwischen London und Brüssel über Jahre belastet hatten. Trotz anhaltender Differenzen – etwa bei den Fischereirechten, der dynamischen Angleichung von Standards und der Freizügigkeit für junge Menschen – herrschte auf beiden Seiten Konsens über die Notwendigkeit enger verteidigungspolitischer Zusammenarbeit.

 

Der Kern des Deals: Verteidigungszusammenarbeit

Im Zentrum der neuen Kooperation steht die Beteiligung Großbritanniens and den Aufrüstungsprogrammen und -initiativen der EU.  Angesichts der russischen Aggression und wachsender transatlantischer Unsicherheit ist die Einbindung der militärische Kapazitäten des Vereinigten Königreichs in die europäische Sicherheits- und Verteidigungsstrukturen strategische Notwendigkeit. Die im Rahmen der neuen Sicherheits- und Verteidigungspartnerschaft verankerten Vereinbarungen beinhalten u.a. halbjährliche außen- und sicherheitspolitische Dialoge zwischen dem Hohen Vertreter der EU und den britischen Außen- und Verteidigungsministern. Zudem kann der Hohe Vertreter das Vereinigte Königreich künftig zu hochrangigen EU-Treffen, einschließlich des Rats, einladen. Ein jährlicher Sicherheits- und Verteidigungsdialog soll die Umsetzung des Abkommens begleiten und weiterentwickeln.

Eine wichtige Motivation seitens Londons ist zweifensohne die Teilhabe an der 159 Milliarden Euro schweren SAFE-Initiative, mit der die EU Investitionen in die Europäische Verteidigungs-, Technologie- und Industriebasis (EDTIB) fördern will. Rüstungsunternehmen aus Drittstaaten dürfen maximal 35 Prozent des Auftragswerts abdecken – es sei denn, ihr Heimatland schließt ein bilaterales Verteidigungsabkommen mit der EU sowie ein separates technisches Abkommen. Das Vereinigte Königreich benötigte den Deal also, um einen ersten Schritt zur Überwindung dieser Beschränkungen zu machen. Die Verhandlungen über das technische Zusatzabkommen laufen zwar noch, sollen jedoch laut Kommissionspräsidentin von der Leyen bereits in wenigen Wochen abgeschlossen werden. Im Gegenzug akzeptiert London eine „Pay-to-play“-Regelung.

Neben der Beteiligung an SAFE enthält die unterschriebene Sicherheitspartnerschaft unter Anderem Absprachen über eine engere Zusammenarbeit zur Verbesserung der militärischen Mobilität, sowie einer Beteiligungsmöglichkeit britischer Truppen an EU-Missionen – besonders relevant, sollten sich die USA aus NATO-Initiativen zurückziehen. Angesichts der existenziellen Herausforderungen, welchen sich Großbritannien und die EU international gegenübersehen, war das Verteidigungsabkommen in der Tat ein eindeutiger „Win-Win“. Verkompliziert wurde sein Abschluss dennoch von einer Reihe unverwandter Themen, in welchen die Interessenkonflikte zwischen EU-Mitgliedstaaten und Großbritannien zwischenzeitlich gar das Verteidigungsabkommen in Gefahr zu bringen schienen

 

Agrar- und Lebensmittelhandel: Stolperstein und Wachstumschance

Premierminister Starmer steht intern unter wirtschaftlichem Druck. Der Verbrauchervertrauensindex ist auf einem Tiefstand, während die Inflation im April laut Prognosen des ONS auf 3,6 % anstieg – der höchste Wert seit zweieinhalb Jahren. Von einem handelspolitischen Abkommen im Bereich Agrar- und Lebensmittelprodukte mit der EU erwartet sich die Regierung insbesondere eine spürbare Senkung der Lebensmittelpreise in britischen Supermärkten sowie eine Erhöhung der Exporte auf den Kontinent. Eine Rückkehr zum Binnenmarkt oder zur Zollunion hatte PM Starmer jedoch von Beginn an ausgeschlossen. Er wollte damit auch den Eindruck vermeiden, dass sein „Brexit-Reset“ das Votum des Brexit-Referendums untergraben könnte. Ein sektoraler Deal im Bereich der Veterinärstandards, die sich auf Regelungen im Bereich der Lebensmittelsicherheit, Tiergesundheit und Pflanzengesundheit beziehen, war daher ein zentrales Ziel Londons. Konkret zielt die Vereinbarung auf den Abbau bürokratischer Hürden für britische Agrar- und Fischereiexporte ab. Experten erwarten einen Exportanstieg von bis zu 20 %. Im Gegenzug stimmte Großbritannien einer dynamischen Angleichung an relevante EU-Vorschriften zu und versprach Beitragszahlungen, um die Arbeit an der entsprechenden Normsetzung mitzufinanzieren. Um diesen Veterinärdeal zu ermöglichen, musste jedoch eine Einigung in der Frage der Fischereirechte für europäische Fischer in britischen Gewässern gefunden werden.

 

Fischereirechte: Ein Riskanter Kompromiss

Einige EU-Staaten, angeführt von Frankreich, hatten eine Verlängerung der aktuellen Regelung, die europäischen Fischereibooten den Zugang zu britischen Gewässern gewährt und im nächsten Jahr ausgelaufen wäre, zur Bedingung für den ungehinderten Zugang britischer Agrarprodukte zum europäischen Markt gemacht. Die EU wollte verhindern, dass London dauerhaft von Markterleichterungen profitiert, ohne gleichzeitig den Zugang für europäische Fischer abzusichern.

Letztlich einigte man sich auf einen Kompromiss: Im Gegenzug für eine unbefristete Erleichterung britischer Lebensmittelexporte verlängert Großbritannien die bestehende Fischereiregelung um zwölf Jahre. Damit besteht zwar keine zeitliche Symmetrie zwischen den Markterleichterungen für die Briten und den Fischereirechten der Europäer – doch wurde die aktuelle Fischereiregelung deutlich länger verlängert als die ursprünglich von London angestrebten vier Jahre.

 

Youth Mobility: Vertagte Bewegung

Ein besonders kontroverser Punkt war der europäische Wunsch nach einem umfassenden „Youth Mobility Scheme“. Vor allem Deutschland drängte auf eine Regelung, die es jungen Menschen erleichtern sollte, in der EU beziehungsweise im Vereinigten Königreich zu leben und zu arbeiten. Auch eine Absenkung der Studiengebühren für EU-Studierende an britischen Universitäten war im Gespräch. Doch angesichts des innenpolitischen Drucks durch Reform UK wäre es für Premierminister Keir Starmer äußerst riskant gewesen, auch nur eine partielle Rückkehr zur europäischen Freizügigkeit einzuleiten. Zudem hatte der Premierminister erst vor Kurzem eine abrupte Kehrtwende hin zu einer restriktiveren Migrationspolitik vollzogen. Es ist davon auszugehen, dass die Verhandler den Begriff „Youth Mobility“ auch aus Rücksicht auf die sensible innenpolitische Lage des Premierministers nicht in das Abschlussdokument aufgenommen haben. Stattdessen wurde der vage formulierte Wille festgehalten, gemeinsam auf ein „ausgewogenes Youth Experience Scheme“ mit Obergrenzen und zeitlicher Befristung hinzuarbeiten.

 

Die Heimische Debatte: der Geist des Brexits lebt

Während die mächtigen Verbandsvertreter der britischen Industrie die Vereinbarungen und Verabredungen zwischen Großbritannien und der EU grundsätzlich begrüßten und sich sowohl mit euphorischen oder mit kritischen Stellungnahmen zurückhielten, trat die britische Fischereiindustrie mit besonders harscher Kritik hervor. Obwohl der Jahresumsatz der Fischereiindustrie vergleichsweise gering ist – er entspricht in etwa dem des Londoner Warenhauses Harrods –, hat die Frage der Fischereirechte im Vereinigten Königreich seit dem Brexit-Referendum eine totemhafte Bedeutung angenommen und wird eng mit der Frage nationaler Souveränität verknüpft. Der Verband schottischer Fischer bezeichnete die Übereinkunft als „eine Horrorshow“, und Schottlands First Minister, John Swinney, behauptete, dass die britische Regierung mit dem Deal die Fischereiindustrie aufgegeben habe. Gleichwohl ist auch diesen Akteuren bewusst, dass die neue Vereinbarung den aktuellen Status quo verlängert, die britische Regierung den Küstenstädten zusätzliche Gelder zur Verfügung stellt und Fischereiprodukte nun einen erleichterten Zugang zum europäischen Markt erhalten.

Für die Opposition ist die Annäherung an die EU immer noch ein Rotes Tuch. Kemi Badenoch, die Chefin der Conservatives, der Architekten des Brexits, wetterte, dass Keir Starmer an dem Deal nichts historisch sei. „Wir wollen über die Zukunft sprechen – dieses Abkommen führt uns jedoch zurück in die Vergangenheit. Deshalb bezeichnen wir es als Kapitulation.“ Das Vereinigte Königreich drohe, zu einem bloßen „Regel-Empfänger“ zu werden. Noch schärfer fiel die Kritik vom Brexit-Fanatisten Nigel Farage aus. Der Reform-UK-Vorsitzende bezeichnete den Kompromiss als „Verrat“ und „Ausverkauf britischer Interessen“. Sowohl die Tories als auch Reform UK kündigten an, den völkerrechtlich nicht bindenden Deal im Falle eines Wahlerfolges bei den nächsten Unterhauswahlen rückgängig machen zu wollen. Schließlich hatte sich Nigel Farage als Brexit-Campaigner einen Namen gemacht, und die Tories einen „harten“ Brexit implementiert. Unter den konservativen Vorgängern Starmers hatte sich Großbritannien von der EU losgelöst, und den Anspruch erhoben, weltweit neue Partnerschaften zu schließen. Das Schlagwort „Global Britain“ wurde als bewusster Kontrast zur alten Einbindung in die EU geprägt, lieb in der Umsetzung jedoch hinter den Ankündigungen und Erwartungen zurück.

 

Zwischen Brexit-Reset und Global Britain

Nun ist es stattdessen Labour-Premier Keir Starmer, der dieser Ambition und Vision mit konkreten Ergebnissen näherkommt. Seit seinem Amtsantritt hat der PM innerhalb kürzester Zeit Handelsabkommen finalisiert, die seinen Vorgängern verwehrt blieben – mit Indien, mit der Trump-Administration und nun mit der EU. Was andere versprachen, setzte er um. Die jüngste Vereinbarung mit der EU ist sein bisher größter außenpolitischer Erfolg. Europa und das Vereinigte Königreich teilen gemeinsame Werte und Sicherheitsinteressen, und die EU bleibt wichtigster Handelspartner Großbritanniens. Ob der „Win-Win“-Deal kurzfristig zur wirtschaftlichen Erholung beiträgt, bleibt abzuwarten. Doch die innenpolitische Dringlichkeit spürbarer Erfolge ist unbestritten.

Die Tür für eine weitergehende Vertiefung der Zusammenarbeit ist mit den in Lancaster House besiegelten Vereinbarungen erst geöffnet worden: die weitreichende „erneuerte Agenda“ wird in den kommenden Monaten und Jahren durch weiterführende Verhandlungen mit Leben gefüllt werden müssen. Differenzen in zentralen Fragen wie dem Binnenmarkt und der Rolle des Straßburger Gerichtshofs bleiben bestehen. Die Erfolge dieses Gipfels markieren zwar den Anfang eines neues Kapitels - dessen Text wird sich jedoch nicht von selber schreiben. Mit dem Brexit-Reset geht Starmer ein kalkuliertes Risiko ein – er setzt darauf, dass der Weg zu Global Britain über einen „Brexit-Reset“ der Beziehungen zur EU führt. Ob dieser Ansatz ihn als ersten Premier seit David Cameron zur Wiederwahl führen wird, entscheidet sich daran, ob der Reset auch innenpolitisch greift.

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Dr. Canan Atilgan

Portrait von Dr. Canan Atilgan

Leiterin Auslandsbüro Vereinigtes Königreich und Irland

canan.atilgan@kas.de +44 (0)20 7834 4119

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Über diese Reihe

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