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Konrad-Adenauer-Stiftung e. V.

Country reports with a difference

Menschen mit Behinderungen und das Bildungssystem in Belarus

Inklusion weltweit – aktueller Stand aus Belarus

Trotz einer äußerlich relativ guten Situation in dem im Titel angesprochenen Bereich in Belarus – vor allem auf der Ebene der Gesetzgebung – scheint die reale Lage bei einer genaueren Betrachtung von dem schönen Bild, das der Staat vor allem auf der internationalen Bühne darzustellen versucht, weit entfernt zu sein. Der vorliegende Überblick gründet sich auf Berichte belarussischer Menschenrechtler und Empfehlungen des UN-Ausschusses für die Rechte des Kindes vom Februar 2020. Die Lage wird sich seitdem kaum zum Besseren verändert haben, da das in Belarus herrschende Regime seit August 2020 um sein Überleben kämpft und kaum Mittel für signifikante Verbesserungen in diesem arbeits- und ressourcenintensiven Bereich hat. Außerdem wurden seit August 2020 so gut wie alle NGOs, die sich in diesem Bereich betätigen und sich um einen Dialog mit dem Staat zugunsten der Menschen mit Behinderungen bemüht haben, auf Initiative des Regimes zerschlagen.

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Was wird international gelobt?

Der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes begrüßte bestimmte Fortschritte der belarussischen Behörden, die aber meistens deklarativen Charakter hatten:

  • Ratifizierung des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen im Jahr 2016;
  • Die Einleitung des Prozesses der Deinstitutionalisierung und die Entwicklung der Familienpflege für Kinder mit Behinderungen, wenn auch bei unzureichender Koordinierung;
  • Verabschiedung eines Nationalen Plans zur Umsetzung des obigen Übereinkommens von 2017 bis 2025;
  • Verabschiedung eines Konzeptes für die Entwicklung einer integrativen Bildung und eines dazugehörigen Aktionsplans 2015.

Es wurden daraufhin viele einschlägige Gesetze geändert bzw. neu verabschiedet, z.B. am 30. Juni 2022 ein neues Gesetz „Über die Rechte von Behinderten und ihre soziale Integration". Es muss aber beachtet werden, dass in einem Land, wo man laut Lukaschenka „manchmal über die Gesetze hinwegsehen” muss, wo auch im Bildungssystem (inzwischen) vor allem Loyalität gefordert wird und Gerichte gleichgeschaltet sind, selbst die besten Gesetze häufig nur Absichtserklärungen bleiben.


Was ruft die Besorgnis des UN-Ausschusses hervor?

Vor dem Hintergrund der oben genannten Fortschritte äußerte der UN-Ausschuss an mehreren Stellen „Besorgnis“ und formulierte Verbesserungsempfehlungen:

  • Diskrepanzen bei der Definition von Behinderung, die sich auch in der Datenerhebung widerspiegeln, was eine umfassende Bewertung und Behandlung der Zahl und Situation von Kindern mit Behinderungen, auch in der Regelschule, erschwert;
  • Unzureichende Koordinierung der Politik für Kinder mit Behinderungen, insbesondere im Hinblick auf aufklärende Familienarbeit, Rehabilitationsprogramme und familienorientierte Dienste;
  • Die unzureichende Abdeckung durch das System der Familienbetreuung und die auch aus diesem Grund steigende Zahl von Kindern mit Behinderungen in Heimen;
  • Mangelnde Unterstützung für Kinder mit Behinderungen während ihres Übergangs ins Erwachsenenalter;
  • Weitverbreitete Diskriminierung, Stigmatisierung und Gewalt gegen Kinder mit Behinderungen.

Der UN-Ausschuss empfahl dem belarussischen Staat, dass er

  • unter Einbeziehung der Zivilgesellschaft eine umfassende Strategie zur Reform des Kinderbetreuungssystems als integralen Bestandteil der Regierungsprogramme für den Zeitraum 2021-2025 mit angemessenen personellen, finanziellen und technischen Ressourcen verabschiedet;
  • sicherstellt, dass alle Kinder mit Behinderungen schrittweise Zugang zur integrativen Bildung erhalten und integrativer Unterricht in integrierten Klassenräumen angeboten wird;
  • sicherstellt, dass der Staat die Berufsberatung für alle Kinder, auch für Kinder mit Behinderungen, verbessert, damit die Wünsche der Kinder zur Grundlage ihrer Berufswahl werden.

Ein grundsätzliches Manko, auf das der Ausschuss hinweist und das bis dato nicht beseitigt ist, besteht darin, dass die Kinder, insbesondere solche mit Behinderungen, „Berichten zufolge manchmal nicht als Träger von Rechten angesehen werden“.

 

Sichtweise der belarussischen Zivilgesellschaft

Im oben erwähnten Alternativen Bericht für den UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes weisen die belarussischen NGOs auf die folgenden Probleme des Bildungssystems in Bezug auf Kinder mit Behinderungen hin:

  • Die Praxis, eine große Gruppe von Personen aus medizinischen Gründen von der allgemeinen Bildung auszuschließen, halte an. Die gesetzlichen Vorschriften halten auch die Segregation in der Sonderpädagogik aufrecht.
  • Eine psychologische, medizinische und pädagogische Untersuchung, die oft nur eine halbe Stunde dauert, bestimme die Struktur und den Schweregrad der körperlichen und/oder geistigen Behinderung eines Kindes und legt damit seinen Ausbildungsweg fest. Die dabei durchgeführten Tests sind oft nicht an das einzelne Kind angepasst.
  • In vielen Bildungseinrichtungen gebe es diskriminierende Beschränkungen bei der Beurteilung von Schülern und beim Zugang zur nächsten Bildungsstufe.
  • Das Bildungssystem bilde keine Tutoren aus, die Kinder mit Autismus-Spektrum-Störung (ASS) auf ihrem Bildungsweg begleiten. Es finde nicht einmal eine Diskussion über die Schaffung eines solchen Berufes statt. Infolgedessen werden Kinder mit ASS fast vollständig vom Bildungssystem ausgeschlossen und ihres Rechts auf eine hochwertige Bildung beraubt.


Im März 2020 attestiert eine der Fach-NGOs für Kinder mit Behinderungen – „Levania“ – in ihrer Analyse der Implementierung des UN-Übereinkommens über die Rechte des Kindes und der Menschen mit Behinderungen: „Die Basisinfrastruktur und der Rechtsrahmen für Sozialschutz und Bildung haben sich in den letzten zwanzig Jahren nicht merklich verändert und sind auf dem Niveau der 1990er Jahre geblieben. Die während der Sowjetzeit aufgestellten Schlüsselkonzepte und -prinzipien werden trotz ratifizierter Übereinkommen und Verpflichtungen zur Harmonisierung und Beseitigung diskriminierender Normen, die den Grundsätzen der Übereinkommen zuwiderlaufen, nach wie vor nicht vollständig umgesetzt“.

Der NGO „Levania” zufolge konnte auch der im Januar 2022 verabschiedete neue Kodex über das Bildungswesen „absolut nichts Neues für die Entwicklung und Verbesserung des Bildungswesens bringen“.

 

Sichtweisen der Menschenrechtler

In ihren oben erwähnten Indizes der Menschenrechte gehen die Menschenrechtler in Belarus u. a. auf die Probleme für die Kinder mit Behinderungen im belarussischen Bildungssystem ein:

Schon die Grundschulbildung sei nicht für alle jungen Bürgerinnen und Bürger in gleichem Maße zugänglich, insbesondere nicht für benachteiligte Gruppen. Die Zahl der Bildungseinrichtungen in den Regionen, insbesondere für Kinder mit Behinderungen, sei begrenzt oder gar nicht vorhanden. Experten schätzen, dass nur 60% der Kinder mit Behinderungen eine Schule besuchen. Der Zugang zu Bildung und die Erfassung von Kindern mit Behinderungen durch den Heimunterricht sei aber auch begrenzt. Das Bildungssystem ist demnach weiterhin klar auf das „Durchschnittskind“ ausgerichtet. Im Jahr 2020 habe die Pandemie die digitale Kluft und die Chancenungleichheit zwischen verschiedenen gefährdeten Gruppen nur noch deutlicher gemacht. Kinder mit Behinderungen oder Kinder mit besonderen Bedürfnissen, Kinder mit einem besonderen sozialen Status und Kinder aus ländlichen Gebieten seien im Bildungsbereich in erheblichem Maße benachteiligt.

Insgesamt schätzen Experten, dass nur 3% der Kinder mit Behinderungen die Schule abschließen, und nur wenige schaffen es bis zur weiterführenden (Mittel-)Schule. Kinder mit besonderen Bedürfnissen sind nicht imstande nach einem standardisierten Lehrplan zu lernen und kaum ein Lehrer passe den Lehrplan entsprechend an. Auch im Hochschulbereich sinke der Anteil der Studenten mit Behinderungen von Jahr zu Jahr. Ihre Diskriminierung beginne mit den zentralisierten Aufnahmetests. So fehle hier zumeist ein barrierefreier Zugang, Materialien für sehbehinderte Teilnehmer seien nicht vorhanden und die Studienprogramme werden an die Bedürfnisse von Personen mit Behinderung nicht angepasst.

In der Breite des Bildungssystems sei das Lehrpersonal nicht ausreichend geschult, um auf die besonderen Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung einzugehen. Die Lehrkräfte verfügen oft weder über die praktischen Fähigkeiten noch die nötige Sensibilisierung und entsprechende Motivation. Jedoch sei die Absicht der Behörden zu erwähnen, Übersichtsvorlesungen zum Thema Inklusion an pädagogischen Hochschulen einzuführen.

 

Ansichten des Staates aus Sicht der Menschenrechtler

Das staatliche System habe ein „verzerrtes“ Verständnis von Inklusion und Chancengleichheit im Bildungswesen und dem Zugang zu Bildung für verschiedene gefährdete Gruppen. Dies spiegele sich etwa im Dokument über „Konzeptionelle Ansätze für die Entwicklung des Bildungssystems in der Republik Belarus bis 2020 und für die Perspektive bis 2030“, das 2017 vom Bildungsminister genehmigt wurde. Dieses Dokument ziele nicht auf den gleichberechtigten Zugang zur Schul- oder Hochschulbildung für gefährdete Gruppen ab, Inklusion werde nur als Verbesserung der physischen Zugänglichkeit von Bildungseinrichtungen für Menschen mit Behinderungen verstanden. Alle anderen sozialen Gruppen, die besondere Unterstützungsmechanismen benötigen, werden demnach von den Behörden ignoriert. Das Thema Inklusion und gleichberechtigter Zugang zur Bildung sei im Diskurs der Behörden nach Kritik der Menschenrechtler so gut wie nicht präsent.

 

Fazit

Schon vor August 2020 tat sich der belarussische Staat schwer damit, in einen Dialog mit der Zivilgesellschaft zu treten und seine Bürgerinnen und Bürger in ihren Wünschen, Bedürfnissen und Rechten als gleichberechtigtes Gegenüber zu akzeptieren. Seit der Niederschlagung der Proteste, der Liquidierung von hunderten NGOs, auch im sozialen Bereich, und der allgemeinen Atmosphäre von Angst hat sich der „Monologcharakter“ des Umgangs des Staates mit der Gesellschaft noch verstärkt.

Unter barrierefreiem Zugang zu Bildungseinrichtungen versteht der Staat kaum mehr als die Beseitigung physischer Barrieren, z. B. Rampen für Rollstuhlfahrer. Eine Inklusionsagenda im breiten Sinne des Wortes – z. B. durch die Anpassung der Lehrpläne und die Ausbildung und Bereitstellung vom zusätzlichen Fachpersonal – ist bislang nicht entstanden. Einerseits mangelt es an Finanzmitteln. Andererseits wirkt bis heute die zu Sowjetzeiten verbreitete Sichtweise nach, dass Menschen mit Behinderung vor allem als „Pflegeobjekte“ verstanden werden und weniger als Träger von Rechten. Angesichts der Prioritäten des Regimes – Selbsterhaltung vor allem durch Gewalt und Einschüchterung – ist in der nächsten Zeit von staatlicher Seite kaum mit Verbesserungen zu rechnen, wenn man von deklarativen Gesetzen und Verordnungen absieht.

Eine Kooperation mit einschlägigen Organisationen aus dem Nichtregierungsbereich ist vor Ort kaum möglich, wegen der Auslöschung der relevanten Strukturen der Zivilgesellschaft durch das Regime. Es gibt zwar noch traditionelle Vereine, die Menschen mit Behinderungen vertreten und vor allem für ihre soziale Integration sorgen – „Verband der Rollstuhlfahrer der Republik Belarus“, „Belarussische Gesellschaft der Behinderten“ oder „Welt ohne Grenzen“. Sie versorgen ihre Mitglieder auch mit Infos über die bestehenden Möglichkeiten im Bildungsbereich, jedoch gehört die Durchsetzung der Inklusion im Bildungsbereich, insbesondere für die Kinder mit Behinderungen, derzeit nicht zu den Schwerpunkten ihrer Aktivitäten. Viele relevante NGOs haben unter Zwang das Land verlassen und können im Exil ihre Arbeit nur begrenzt fortsetzen – jenseits von internationaler Vernetzung, Monitoring und Eintreten für ihr Heimatland. Am 22. August 2022 ließ Lukaschenka eine einheitliche „nationale Wohltätigkeitsstiftung“, ins Leben rufen, die unter seiner eigenen Leitung diese Fach-NGOs ersetzen soll. Ob ihr das gelingt, darf bezweifelt werden.

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Jakob Wöllenstein

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