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Bricht der Irak jetzt auseinander?

Ethnische und religiöse Gegensätze im Irak haben sich massiv verstärkt

Der drohende Zerfall weckt vor allem bei den Kurden alte Träume. Das Ende eines Kunststaates? Die Antwort sucht Oliver Ernst, bei der Konrad-Adenauer-Stiftung Länderreferent im Team Naher Osten.

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Herr Ernst, die Isis-Milizen haben große Teile des Irak unter ihre Kontrolle gebracht und das Kalifat ausgerufen. Ist das Land noch zu retten?

Die Isis-Kämpfer haben bisher nur die arabisch-sunnitisch besiedelten Landesteile besetzt; die von Schiiten und von Kurden bewohnten Gebiete sind noch nicht bedroht. Was allerdings wenig Beachtung fand, ist die Tatsache, dass die alten sunnitischen Eliten teilweise ein Zweckbündnis mit den Isis-Dschihadisten eingegangen sind – aus Unzufriedenheit mit der von Schiiten dominierten Regierung in Bagdad. Doch langfristig werden die Sunniten von dieser gewaltsamen Konfrontation nicht profitieren. Mit 20.000 Kämpfern ist die Isis nicht gerade eine riesige Streitmacht, die unbesiegbar wäre. Die Gewalt, die die Isis-Milizen anwenden, wird dazu beitragen, dass sich die Stimmung auch in der sunnitischen Bevölkerung früher oder später gegen sie richten wird. Die Ausrufung des Kalifats durch Isis gibt nicht die realen Kräfteverhältnisse wieder.

Warum?

Seit rund 60 Jahren gibt es global vernetzte Pro-Kalifats-Bewegungen, die – wie beispielsweise Hisb-ut-Tahrir mit geschätzt einer Million Anhängern – wesentlich größer sind als Isis. Und keine dieser Organisationen hatte es so eilig mit der Ausrufung eines Kalifats. Die Isis verfolgt damit derzeit vor allem propagandistische Zwecke.

Muss der Irak zwangsläufig zerfallen, weil er von Anfang an ein politisches Kunstprodukt war?

Die ethnischen und religiösen Gegensätze im Irak haben sich massiv verstärkt. In den letzten Jahrzehnten, vor allem unter der Diktatur von Saddam Hussein, gab es eine immer deutlichere Abgrenzung zwischen Sunniten, Schiiten und Kurden. Der Irak als einheitliches politisches Konstrukt stand schon damals infrage. Der Sunnit Saddam ließ Bestrebungen von Kurden und Schiiten nach politischer Emanzipation brutal unterdrücken. Der Druck, den Staat zusammenzuhalten, hat nach dem Sturz Saddams deutlich nachgelassen.

Die Kurden sind mit geschätzt 20 bis 40 Millionen Menschen das zahlenmäßig größte Volk ohne eigenen Staat. Wie groß sind ihre Chancen, den alten Traum zu verwirklichen?

Die etwa vier Millionen Kurden im Irak besitzen einen starken Autonomiestatus. Sie sind nicht bereit, von ihren Rechten und Befugnissen etwas abzutreten, um einen irakischen Einheitsstaat zu retten. Das Bestreben, sich von Bagdad zu lösen, hat sich durch die gravierenden Fehler al-Malikis verstärkt. Die Kurden fühlen sich willkürlich behandelt, weil ihnen die Regierung ihren Anteil aus der Ölförderung vorenthalten hat. Ihnen steht knapp ein Fünftel der Einnahmen zu. Sie haben im letzten halben Jahr aber kein Geld aus Bagdad bekommen. Deshalb machen die Kurden das Ölgeschäft jetzt selbst und sich so wirtschaftlich unabhängiger.

Was bedeutet das?

Das wirkt wie ein Todeskuss in Richtung Bagdad. Denn zuvor haben die Kurden bereits ihr militärisches Potenzial demonstriert. Den Peschmerga-Kämpfern gelang es problemlos, das Machtvakuum in der Provinz Kirkuk zu füllen, das der Rückzug der irakischen Armee vor den Isis-Milizen hinterlassen hat. Hinzu kommt, dass es hervorragende bilaterale Beziehungen zwischen den Kurden im Nordirak und der Türkei gibt. Es ist eine starke Achse, ein strategisches Bündnis, gegen das niemand mehr ankommt – weder die Regierung in Bagdad noch die Führung des Iran.

Heißt das, die Türkei hat nichts gegen einen Kurdenstaat einzuwenden?

Die Regierung in Ankara geht inzwischen viel nüchterner um mit der Frage eines Kurdenstaates im Nordirak. Das ist Ergebnis eines politischen Lernprozesses. In Ankara betrachtet man die Kurden im Irak als einen stabilisierenden Faktor für die Region, was auch im türkischen Interesse liegt. Schon in den 1960er-Jahren hatten die irakischen Kurden versichert, ihr Staat würde der westlichste im Nahen Osten werden.

Würde den Kurden ein eigener Staat im Nordirak genügen? Immerhin leben sie nicht nur im Irak, sondern auch in Syrien, Iran und vor allem in der Türkei.

Die Kurden im Nordirak sind wirtschaftlich, politisch und militärisch selbstbewusst und überlebensfähig. Davon sind die Kurden in den anderen Staaten der Region weit entfernt. Sie sind in einer völlig anderen Situation und Verfassung. Für die meisten Kurden in der Türkei ist der Traum von einem eigenen Staat nicht das, was sie beschäftigt. Sie sehen ihre Zukunft besser gesichert in einem föderal strukturierten und demokratischen Staat mit stabilen Verhältnissen. Mit weitreichender Autonomie wären sie zufrieden.

Schon nach dem Golfkrieg 1991 hatten die Kurden Hoffnungen auf einen eigenen Staat. Sie wurden enttäuscht, weil die USA Saddam Hussein an der Macht ließen. Was ist heute anders?

Das Problem erscheint beherrschbarer. Damals operierten in der Türkei in weit größerem Ausmaß als heute die Kämpfer der Terrororganisation PKK, die die Armee lange Zeit nicht in den Griff bekam. Es bestand die Gefahr eines kurdischen Flächenbrandes. Die Militanz der antiwestlich orientierten PKK war damals eine echte Bedrohung – nicht nur für die Türkei.

Wie würde ein Kurdenstaat die Statik der Macht in der Region verändern?

Ein Kurdenstaat ist derzeit nicht die beste Option für den Irak. Die Ausrufung eines solchen Staates könnte zu einer Eskalation der Gewalt führen, die jetzt noch einzudämmen ist. Im Augenblick bemüht sich die internationale Gemeinschaft darum, den Irak in seiner bisherigen Form zu erhalten. Das setzt aber voraus, dass alle drei Bevölkerungsgruppen gleichermaßen an der Macht beteiligt werden.

Das Gespräch führte Frank Grubitzsch von der Sächsischen Zeitung.

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