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19. Januar – Gedenktag für die vertriebenen Ungarndeutschen

von Frank Spengler, Mark Alexander Friedrich
Die Aufarbeitung des Leids der Kriege des 20. Jahrhunderts und der europaweiten Vertreibungen ist auch heute noch ein sensibles Thema mit viel Konfliktpotential.

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Es ist für das friedliche Zusammenleben der Völker Europas aber unerlässlich, auch über diese Schattenseiten der Geschichte zu sprechen. Vor diesem Hintergrund ist der ungarische Gedenktag am 19. Januar für die vertriebenen Ungarndeutschen nach dem Zweiten Weltkrieg besonders bemerkenswert. Ohne Gegenstimme verabschiedete die ungarische Nationalversammlung im Dezember 2012 den Beschlussantrag der Regierungskoalition von FIDESZ und KDNP über die Einrichtung dieses jährlichen Gedenktags. Die Parlamentsentscheidung ist ein eindeutiger Beleg für das Interesse Ungarns an einer Aufarbeitung seiner Geschichte. Diese Entscheidung gibt auch Hoffnung, dass in dem politisch und gesellschaftlich tief gespaltenen Land in wichtigen Fragen ein Konsens erzielt werden kann.

Der 19. Januar ist der Beginn eines dunklen Kapitels in der Geschichte Ungarns. An diesem Tag begann vom Budapester Vorort Budaörs (Wudersch) aus und bald im ganzen Land die Vertreibung der deutschen Minderheit in Ungarn. Diese menschliche Katastrophe stand im Zusammenhang mit den Entscheidungen in Jalta und Potsdam, bis zu 12 Millionen Deutsche aus Mittel- und Osteuropa auszusiedeln. Die Anzahl der dabei ums Leben Gekommenen ist sowohl insgesamt als auch im Falle der Vertreibung aus Ungarn schwierig zu beziffern. Historiker gehen von mindestens 600.000 und bis zu 2,1 Millionen Todesopfern aus. Die Ermittlung der genauen Opferzahl war auf Grund der chaotischen Zustände nach Kriegsende nur schwer möglich, zumal auch viele Opfer erst nach der Vertreibung ums Leben kamen.

Die systematische Vertreibung der Ungarndeutschen datiert Anfang 1946, doch das Leid begann schon früher. So wurden während der Kämpfe um Ungarn, in den Jahren 1944 und 1945, 35–40.000 ungarische Staatsbürger deutscher Abstammung - überwiegend junge Frauen und Männer im Alter zwischen 16 und 40 Jahren – auf sowjetischen Befehl zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion verschleppt. Rund ein Viertel der Verschleppten verlor in den sowjetischen Arbeitslagern ihr Leben. Die dann auf den Krieg folgende Vertreibung hatte vielerlei Gründe. In einem Teil der Literatur wird oft behauptet, dass die ungarische Regierung auf Befehl der Alliierten Kontrollkommission und auf sowjetischen Druck gehandelt habe. Andere Quellen gehen jedoch davon aus, dass der Initiator die ungarische Übergangsregierung war und sie in der Vertreibung ein Allheilmittel für die Nachkriegsprobleme sah. So sollten insbesondere der Hunger und Wohnungsmangel der aus den Nachbarländern vertriebenen Ungarn auf diese Weise gemildert werden. Darüber hinaus sollte auf diese Weise die Landfrage der aus dem Osten umgesiedelten ungarischen Bauern gelöst werden. Eines der Argumente mit der dieses Vorgehen wiederholt begründet wurde, war die „Kollektivschuld“ der Deutschen für die Verbrechen der Nazis. Dabei wurde den Ungarndeutschen vor allem zum Verhängnis, dass der „Volksbund der Deutschen in Ungarn“, der zunächst als Emanzipationsbewegung begann und später zum Kulturverein wurde, in den Kriegsjahren von der Waffen-SS instrumentalisiert worden war. Die Beteiligung eines Teils der deutschen Minderheit an den schrecklichen Verbrechen Nazi-Deutschlands erleichterte somit den kommunistischen Machthabern die Argumentation für die „Kollektivschuld“ aller Deutschen.

Abschnitt XIII. des Beschlusses der Potsdamer Konferenz war die Grundlage für die Vertreibungen, die konkreten Pläne aber wurden durch das ungarische Innenministerium ausgearbeitet. In der entscheidenden Kabinettssitzung stimmten neun Minister für die Vorlage, zwei dagegen und fünf enthielten sich. Die Gründe für die Uneinigkeit in der Regierung waren vielschichtig. Einerseits befürchtete sie, einen Präzedenzfall zu schaffen, auf dessen Grundlage die Vertreibung der ungarischen Minderheiten in den Nachbarländern vorangetrieben werden könnte, andererseits spielten aber durchaus auch humanitäre Gesichtspunkte eine Rolle. Hierbei tat sich vor allem István Bibó hervor, der zuvor schon während der Herrschaft der Pfeilkreuzler verfolgte Juden mit Schutzpässen ausgestattet und so gerettet hatte. Er trat aus Protest von seinem Posten im Innenministerium zurück und erklärte, Ungarn täte „dasselbe mit ihnen (der deutschen Minderheit) wie vor einem Jahr mit den Juden“. Bibós Mut und Zivilcourage blieb jedoch weitgehend die Ausnahme. Am 29. Dezember 1945 wurden Kriterien für die Ausweisung nationalsozialistisch belasteter Deutscher erlassen, die aber so formuliert waren, dass sie faktisch die Vertreibung des Großteils der deutschen Minderheit ermöglichten. Die Willkür des Verfahrens wird daran deutlich, dass als Hauptkriterium für die Aussiedlung galt, ob jemand in der Volkszählung von 1941 angegeben hatte, deutschsprachig oder deutsch zu sein.

Die ungarischen Behörden versuchten sich auf eine Entscheidung der Alliierten Kontrollkommission zu berufen. Diese protestierte jedoch gegen die Formulierung „auf Anweisung der Alliierten Kontrollkommission“ im Zusammenhang mit der Vertreibung. Das sowjetische Mitglied der Kommission hingegen übte Druck auf die ungarische Regierung aus, die Vertreibung zu beschleunigen, um auch das gleiche Vorhaben in der Tschechoslowakei vorantreiben zu können. Am 16. Januar 1946 gab der damalige Innenminister Imre Nagy – später Ministerpräsident während des Volksaufstandes 1956 und von den Kommunisten hingerichtet – die Anweisung, dass die Quote der von der Vertreibung Ausgenommenen 10% der ortsansässigen deutschen Bevölkerung nicht übersteigen dürfe. Diese absurde Anweisung der Schuldfeststellung – schließlich war das offizielle Kriterium für die Ausweisung die Unterstützung der Nationalsozialisten – durch einen administrativen Akt wurde vor Ort durch Beauftragte des Innenministeriums durchgeführt. Diese entschieden mehr oder weniger nach Gutdünken über die Schicksale der Menschen. Im Prinzip zeigte sich hier schon mit aller Deutlichkeit die Willkür, die auch viele Ungarn in den folgenden Jahren erleben mussten.

Bis Juni 1948 wurden mindestens 185.000 deutschstämmige Ungarn enteignet und ihre Staatsbürgerschaft aberkannt. Schließlich wurden sie mit 50–100kg Gepäck in das zerstörte Deutschland abgeschoben. Fast dreiviertel der Immobilien und gut 100.000 Hektar Land wurden den Ungarndeutschen genommen. Die Vertreibung fand dabei zunächst in die amerikanische Besatzungszone, überwiegend in das heutige Baden-Württemberg, statt. Nachdem 130.000–150.000 Menschen vertrieben worden waren, stoppte die amerikanische Verwaltung jedoch die Transporte, da die Versorgung der Vertriebenen und Flüchtlinge zunehmend Schwierigkeiten bereitete und auch Uneinigkeit darüber bestand, ob Ungarn das bei der Vertreibung konfiszierte Vermögen auf die zu leistenden Reparationszahlungen anrechnen solle. Daraufhin wurden auf Wunsch der ungarischen Regierung insgesamt 33 Transporte aus den Jahren 1947 und 1948 in die sowjetische Besatzungszone Deutschlands, vorwiegend in den Raum Dresden, Bautzen, Zwickau, umgeleitet. Dies betraf etwa 40–50.000 Menschen. Nach Ende der Maßnahmen war die deutsche Minderheit in Ungarn auf etwa die Hälfte reduziert. Zudem erfüllten sich die Hoffnungen der ungarischen Regierung nicht, dass die Vertreibung einige Probleme des Landes lösen würde. Stattdessen trat der zuvor befürchtete Präzedenzfall ein. Die Tschechoslowakei berief sich bei ihrem Umgang mit der ungarischen Minderheit Explizit auf das ungarische Beispiel.

In der gesamten zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war die Vertreibung ein stetig wiederkehrendes Thema in der Bundesrepublik Deutschland und in ihren Beziehungen mit ihren östlichen Nachbarn. In der DDR war das Thema hingegen ein Tabu. Der Umgang der Tschechischen Republik mit den sogenannten Beneš-Dekreten, aber auch die noch andauernde Diskussion über ein Zentrum gegen Vertreibungen zeigt, wie schwer sich viele noch immer mit dem Thema tun. Umso bemerkenswerter ist daher der Umgang der Ungarn mit diesem Kapitel ihrer Geschichte. Schon kurz nach dem Zusammenbruch des Kommunismus, im Jahre 1990, distanzierte sich das ungarische Parlament von der Vertreibung und das Verfassungsgericht annullierte die Gesetze über die „Kollektivschuld“ aus dem Jahre 1945. 1995 entschuldigte sich der damalige für Minderheiten zuständige Staatssekretär Csaba Tabajdi im Namen der ungarischen Regierung für die Vertreibung und 2006 wurde – zum 60. Jahrestag des Beginns der Vertreibung – eine Landesgedenkstätte und ein Denkmal im Budapester Vorort Budaörs errichtet. An jenem Ort, wo die Vertreibung begann. Zu diesem Anlass erklärte der damalige Staatspräsident László Sólyom: „Als Staatspräsident entschuldige ich mich bei den vertriebenen Schwaben (Ungarndeutschen) und ihren Familien für das ihnen widerfahrene Unrecht und die Ungerechtigkeit und verneige mich vor dem Denkmal der Erinnerung der Vertriebenen in der Hoffnung, dass die Ungarndeutschen hier wieder zu Hause sind.“

Die Worte des Präsidenten waren keine Einzelmeinung. Die Parlamentspräsidentin Katalin Szili wandte sich im Jahre 2007 im Rahmen einer parlamentarischen Gedenkveranstaltung anstelle ihrer Vorgänger, die für schändliche politische Entscheidungen verantwortlich waren, an die Ungarndeutschen: „Verzeihung! Nie wieder!“ Dass nun das ungarische Parlament dem Gedenktag zugestimmt hat, ist die konsequente Fortsetzung eines beispielhaften Umgangs mit der Vertreibung der deutschen Minderheit. Dies wurde auch von Seiten der deutschen Bundesregierung anerkannt. So sprach der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Christoph Bergner, Beauftragter der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten, von einer „begrüßenswerten Tradition von Geschichtsbewältigung“.

In der ungarischen Presse wurde der Gedenktag durchweg gelobt. Kritisch wurde jedoch bemerkt, dass die Entscheidung wohl zu kurzfristig angesetzt worden sei, da in diesem Jahr im offiziellen Veranstaltungskalender des Parlaments kein Termin diesbezüglich eingeplant worden sei. Darüber hinaus falle der Gedenktag in die jährliche Winterpause des Parlaments. Der Herausgeber der ungarndeutschen Publikation „Unsere Post“ wies daraufhin, dass der 19. Januar ein abstrakter Termin sei und dass sich noch eine Tradition von Feierlichkeiten um diesen Tag herum entwickeln müsse.

Begrüßenswert wäre, wenn diese Entscheidung den Weg auch für andere Länder weisen würde. Dass zudem alle im Parlament vertretenen Fraktionen den Vorschlag unterstützten, lässt hoffen, dass in diesem von starkem gegenseitigen Misstrauen und Abneigung polarisierten Land doch noch Möglichkeiten zum Konsens gegeben sind. Gerade auch im Zusammenhang mit der vor einigen Wochen durchgeführten Demonstration gegen Antisemitismus bleibt die Erkenntnis, dass zumindest in manchen Grundwerten noch eine Übereinstimmung vorhanden ist.

Es bleibt festzuhalten, dass Ungarn beherzigt hat, was der ehemalige Bundespräsident Prof. Roman Herzog über die Vertreibungen zum Ausdruck brachte: „Kein Unrecht, und mag es noch so groß gewesen sein, rechtfertigt anderes Unrecht. Verbrechen sind auch dann Verbrechen, wenn ihm andere Verbrechen vorausgegangen sind.“ In diesem Sinne ist Ungarn mit der Einrichtung des Gedenktages am 19. Januar seiner politischen Verantwortung gerecht geworden.

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3. Dezember 2012
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