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Italien: Zwischen Seenotrettung und Küstenschutz

von Caroline Kanter, Silke Schmitt
Die anhaltende Flüchtlingskrise fordert ganz Europa heraus und stellt die Solidarität der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union auf eine harte Probe. Es handelt sich um die größte Fluchtbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Länder Südeuropas, vor allem Italien und Griechenland, sind aufgrund ihrer geographischen Lage ganz besonders von der Migrationsbewegung betroffen und sind somit zum Einfallstor in die Europäischen Union geworden.

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Flüchtlingsströme nach Europa

Die Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der EU-Mitgliedsstaaten, Frontex, unterscheidet sieben Hauptrouten die die Flüchtlinge einschlagen, um nach Europa zu gelangen. Die westafrikanische, die über den Atlantischen Ozean zu den kanarischen Inseln führt; die westliche Mittelmeerroute nach Spanien, die östliche Mittelmeerroute nach Griechenland, die Westbalkan-Route nach Ungarn, die durch die Errichtung eines Grenzzauns seitens der ungarischen Regierung durch den Weg über Kroatien und Slowenien abgelöst wurde und die östliche Route über Polen. Italien erreichen die Flüchtlinge über die zentrale Mittelmeer- und über die Apulien- und Kalabrien-Route.(1)

Der gesamte Mittelmeerraum (zentrale, östliche und westliche Route) wurde seit Beginn des Jahres mit 411.567 Ankömmlingen regelrecht überlaufen (Stand 14.09.2015). Griechenland zählte mehr als 288.000 Flüchtlinge – Italien 121.500. Über die westliche Route nach Spanien erreichten hingegen nur knapp 2.000 Migranten Europa.

Anlandungen in Italien

In Italien hat sich die Zahl der ankommenden Flüchtlinge im Vergleich zum Vorjahr leicht verringert. Im Jahr 2014 erreichten 170.000 Menschen die italienische Küste; in diesem Jahr sind bereits 122.393 Anlandungen registriert (Stand 15.09.2015). Mit der ersten großen Welle sah sich Italien im Jahr 2014 konfrontiert. Im Vergleich zu 2013 hatte sich die Anzahl innerhalb von 12 Monaten fast vervierfacht (2013: 42.925).

Insbesondere die Sommermonate, in denen die Zahl der Flüchtlinge aufgrund der wärmeren Temperaturen und der ruhigeren See sichtlich zunimmt, stellen für Italiens Aufnahmestrukturen eine besondere Herausforderung dar. Die geballte Ankunft der Flüchtlinge – allein im Juli 2015 erreichten circa 20.000 Menschen die italienische Küste (2) – und damit die Erstversorgung der Menschen bereiten Schwierigkeiten; ebenso wie die Registrierung und die Verteilung der Ankömmlinge im Land.

Betrachtet man die Situation in Italien und den Umgang mit den Flüchtlingswellen muss stets berücksichtigt werden, dass das südeuropäische Land vor allem 2014 mit großen innenpolitischen Herausforderungen konfrontiert war. Parteiinterne Machtkämpfe führten im Februar 2014 zu einem Regierungswechsel. Nach wie vor leidet das Land unter hoher Arbeitslosigkeit, Reformstau und wirtschaftlicher Rezession. Alles Faktoren, die die Aufnahme und die Integration von Flüchtlingen erschweren.

Seit Mai 2015 scheint sich die drittgrößte Volkswirtschaft der Eurozone langsam zu erholen. Im ersten Quartal 2015 ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP) um 0,3% gegenüber dem Vorquartal gestiegen. Damit verzeichnete Italien das erste Plus nach vier Jahren anhaltender Rezession.

Die Arbeitslosenquote lag im August 2015 bei 11,9 Prozent – im August 2014 waren noch 12,7 Prozent der Italiener ohne Arbeit gewesen. Auch die Jugendarbeitslosigkeit ist in diesem Jahr leicht gesunken und liegt aktuell bei 40,7 Prozent. Im August 2014 waren 43 Prozent der jungen Menschen erwerbslos gewesen.

Nach Angaben des Meinungsforschungsinstituts IPSOS sieht die Bevölkerung etwas positiver in die Zukunft: Einer von vier Italienern ist der Meinung, dass die schlimmste Zeit nun vorbei sei. 2014 waren nur 11 Prozent der Italiener mit Blick auf die Zukunft des Landes positiv gestimmt.

Italiens Regionen und Kommunen tun sich schwer

Die territoriale Verteilung der Flüchtlinge gestaltet sich in Italien äußerst schwierig. Obwohl seit 2011 eine nationale Quotenregelung existiert, wird diese nicht konsequent angewendet. Sizilien nimmt derzeit mit 16 Prozent den größten Anteil an Flüchtlingen auf. Die Lombardei rangiert mit 13 Prozent an zweiter Stelle, gefolgt von Latium mit 9 Prozent.(3) Diese Zahlen zeigen, dass drei von 20 Regionen knapp 40 Prozent der Flüchtlinge beherbergen. Trient nimmt hingegen lediglich zwei Prozent, das Aostatal nur 0,2 Prozent aller Flüchtlinge auf.

Die Aufnahme wird von einer Vielzahl von Gemeinden – insbesondere im Norden Italiens – regelrecht verweigert. Die Präsidenten der Regionen aus dem Norden, Roberto Maroni (Lombardei, Lega Nord), Luca Zaia (Venetien, Lega Nord) und Giovanni Toti (Ligurien, Forza Italia), lehnen die Aufnahme rigoros ab und kommen der Aufforderung seitens des italienischen Innenministeriums, durch eine effizientere und rationale Verteilung der Migranten die überforderten Regionen des Südens zu entlasten, nicht nach. Im Juni 2015 drohte Roberto Maroni, Subventionen für jene Gemeinden in seiner Region zu kürzen, die sich zu der Aufnahme weiterer Flüchtlinge bereiterklären würden.

Dieser verneinenden Haltung steht der größte Teil der Bevölkerung kritisch gegenüber. 56 Prozent verurteilen dieses Verhalten mit dem Verweis, jede Region und Gemeinde müsse ihren Beitrag bei der Flüchtlingsaufnahme leisten. Doch immerhin 40 Prozent bewerten die Verweigerung als richtig, weil sie glauben, dass das Problem vom Staat an der italienischen Grenze und in den Ankunftsorten der Migranten gelöst werden müsse.(4)

Der italienische Innenminister, Angelino Alfano (Novo Centro Destra), erläuterte in der Abgeordnetenkammer ein einfaches Rechenbeispiel:(5) Italien sei ein Land mit 60 Millionen Einwohnern, 8.000 Kommunen und 100.000 Menschen in den institutionellen Aufnahmezentren – Platz habe man für 120.000 Menschen. „Mit zwei Migranten pro 1000 Einwohner würden wir jene Gemeinden entlasten, die derzeit mit der im Vergleich zur Bevölkerung überproportional hohen Zahl der Migranten belastet sind.“ Ob es der Regierung gelingt diesen Vorschlag umzusetzen, bleibt abzuwarten.

Von diesen 8.000 Kommunen nehmen offenbar lediglich 376 Städte und Gemeinden Asylbewerber auf. Derzeit prüft der italienische Rechnungshof ein Dekret, das 2016-2017 weitere 10.000 Plätze bereitstellen soll, die den Gemeinden, die im Aufnahmenetz registriert sind, zu Gute kommen soll. Man sucht gemeinsam mit den Präfekten die Zusammenarbeit mit den lokalen Verwaltungen der Gemeinden. „Dort, wo die lokale Administration nicht mit uns zusammenarbeitet, verschlechtert sich die Situation für die Bürger, nicht für die Migranten“, so der italienische Innenminister.(6)

Im Jahr 2014 kamen rund 65.000 Menschen in ein Schutzverfahren – 2013 waren es nur 27.000. Bis Mai 2015 registrierte das Land 25.000 Asylanträge. Im Jahr 2014 lag die Anerkennungsquote bei 60 Prozent; bis Juni 2015 lag sie bei 50 Prozent. Sechs Prozent erhielten den Flüchtlingsstatus (2014 waren es 10 Prozent); 19 Prozent wurde subsidiärer Schutz zugesprochen (2014: 22 Prozent) und 25 Prozent wurde eine Aufenthaltsgenehmigung aufgrund humanitärer Gründe zugesichert.

Italienische Aufnahmestrukturen

Die Unterbringung von Flüchtlingen in Italien wird durch den Nationalen Verband italienischer Gemeinden ANCI geregelt. Das Aufnahmesystem in Italien unterscheidet zwischen folgenden Einrichtungen: In den Aufnahmezentren für Asylsuchende (Centri di Accoglienza per Richiedenti Asilo; CDA CARA) werden Migranten aufgenommen, die ein Asylgesuch stellen und deren Identität festgestellt werden muss. Hier finden rund 10.000 Personen Platz. Normalerweise sollten die Antragsteller binnen 35 Tage das Lager wieder verlassen, diese Frist wird häufig jedoch nicht eingehalten. Sobald anerkannte Flüchtlinge das Lager verlassen, sind sie auf sich alleine gestellt. Die Rundumversorgung des CARA (Verpflegung, Unterkunft, medizinische Versorgung) fällt weg und es besteht lediglich Anspruch auf eine medizinische Grundversorgung.

Die sogenannten SPRAR (Sistema di Protezione per Richiedenti Asilo e Rifugati) hingegen sind ein Netzwerk von Aufnahme- und Integrationsprojekten, das Gemeinden, Provinzen und gemeinnützige Organisationen umfasst. Hier kommen Personen unter, denen internationaler oder humanitärer Schutz verliehen wurde und besonders schutzbedürftige Asylsuchende (z.B. Minderjährige), bei denen das Verfahren zur Identitätsfeststellung abgeschlossen ist. Die Aufenthaltsdauer im SPRAR beträgt normalerweise sechs Monate, sie kann jedoch verlängert werden. Minderjährige bleiben mindestens bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres im SPRAR.

Neben diesen staatlichen Unterbringungszentren helfen kirchliche und zivilgesellschaftliche Organisationen wie Sant’Egidio, die Caritas, die Mutter-Theresa-Schwestern, Centro Astalli dank großem ehrenamtlichem Engagement sowohl bei der Erstversorgung der Flüchtlinge als auch in lokalen Aufnahmezentren in den verschiedenen Regionen Italiens. Sie bieten den Schutzsuchenden u.a. Beistand bei der Suche nach einer Unterbringung, bei der Integrierung auf dem Arbeitsmarkt und psychologische Hilfe an.

Stimmung in der Bevölkerung

Zum Funktionieren der Willkommenskultur für Flüchtlinge trägt in Italien die Zivilgesellschaft ganz entscheidend bei. Gerade auf lokaler Ebene zeigt sich die große Hilfsbereitschaft seitens der Bürger. Vor allem im SPRAR-System, das eine „integrierte Aufnahme“ zum Ziel hat, kommt die Unterstützung durch die Bevölkerung durch integrative Ansätze wie das Erteilen von Sprachunterricht, die Unterstützung bei Behördengängen usw. zum Tragen. Auch die Betreuung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen lebt zum größten Teil von der Hilfsbereitschaft zahlreicher Familien in Süditalien. Derzeit befinden sich circa 8.400 unbegleitete Minderjährige in Italien. Hinzu kommen circa 5.400 „unauffindbare“ Minderjährige, die sich aus den Aufnahmestrukturen entfernt haben und als vermisst gelten.

Die steigenden Flüchtlingszahlen sorgen in der italienischen Bevölkerung jedoch auch zunehmend für Unmut: Im Juni 2015 stimmten 42 Prozent der Italiener der Aussage zu, dass Migranten eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und die Sicherheit von Personen darstellten. Im Januar 2015 waren es nur 33 Prozent gewesen, die eine solche Aussage bejahten.(7) 25 Prozent der befragten Italiener gaben an, dass sie die Flüchtlingsströme als Bedrohung für das Land empfänden. Im Dezember 2014 waren lediglich 13 Prozent der Befragten dieser Meinung.(8) Ende 2014 gehörten für die Italiener die Themen Arbeitslosigkeit mit 60 Prozent, wirtschaftliche Situation mit 37 Prozent und die Immigration mit 18 Prozent zu den größten Herausforderungen des Landes.(9) Nun hat sich die öffentliche Wahrnehmung gewandelt. Immigration rutschte mit 31 Prozent nach der Arbeitslosigkeit auf Platz zwei der größten Herausforderungen Italiens.(10)

Die italienische Regierung reagiert auf diese Entwicklung und unternimmt den Versuch, den Blick zu weiten und das Flüchtlingsphänomen in einem größeren Kontext zu sehen. Bei der Vorstellung des aktuellen „Reports zum Internationalen Schutz in Italien 2015“ (Rapporto sulla protezione internazionale in Italia 2015) am 24. September 2015 erläuterte Präfekt Mario Morcone, Direktor der Abteilung für Bürgerrechte und Migration im italienischen Innenministerium, dass von den rund 60 Millionen Menschen, die nach Angaben der UNO im Jahr 2014 ihre Heimat gezwungenermaßen verlassen haben, circa 19,5 Millionen Flüchtlinge seien. Von ihnen seien nur 10 Prozent in Europa angekommen – 3 Prozent in Italien. Das seien seit Januar 2015 rund 120.000 Personen gewesen, vorrangig Eritreer (26 Prozent), Nigerianer (13 Prozent), Somalier (8 Prozent), Sudanesen (6 Prozent) und Syrier (6 Prozent).(11)

Oppositionsparteien machen Druck in der Flüchtlingsfrage

Die Oppositionsparteien Lega Nord, Fratelli d’Italia und die Fünf- Sterne-Bewegung bringen sich zum Thema Flüchtlinge hauptsächlich durch polemische Äußerungen in die öffentliche Debatte ein, die sie über die Sozialen Medien verbreiten. Eine restriktivere Handhabung bei der Schutzgewährung, verstärkte und schnellere Abschiebungen sowie eine größere Unterstützung und Lastenteilung seitens der europäischen Partner gehören zu den prinzipiellen Forderungen der Opposition. Mit populistischen Äußerungen – etwa dass die Flüchtlinge „zu viel“ für Italiens Städte und Gemeinden seien, gehen sie auf Stimmenfang. Ein faktenbasierter Austausch zwischen Opposition und Regierung findet nicht statt. Der Parteiführer der rechts-gerichteten Lega Nord, Matteo Salvini, spricht gerne von einem „Verhätscheln“ der Migranten von Seiten der Regierung. Er ist der Ansicht, die Präfekten sollten die Flüchtlinge bei sich zu Hause aufnehmen, statt den Anwohnern, den Bürgermeistern und den legalen Einwanderern damit „auf den Geist zu gehen”.(12) Auch Giorgia Meloni von der rechts-außen stehenden Partei Fratelli d’Italia übt starke Kritik am Vorgehen der Regierung: Man ließe alle Migranten ins Land um sie in den bereits überforderten Peripherien zusammenzupferchen. Das habe nichts mit Solidarität zu tun, so Meloni im Rahmen der TV-Talkshow Piazza Pulita im Kanal „La sette“.(13)

Vom Auswanderungs- zum Einwanderungsland

Italien ist kein klassisches Einwanderungsland. Vor allem was die Integration von Einwanderern und Flüchtlingen betrifft, verfügt man über relativ wenige Erfahrungswerte bzw. hat sich erst spät mit dem Phänomen politisch auseinandergesetzt. In den 1970er verzeichnete Italien einen ersten Zuwanderungsschub durch Frauen aus den Philippinen, Zentralamerika, Eritrea und Kap Verde. Hinzu kamen männliche Arbeitskräfte aus Tunesien, dem Senegal und Marokko. Sie wurden zum Beispiel im Süden des Landes als Fischer oder aber zur Tomatenernte eingesetzt. Marokkaner und Senegalesen gehörten Ende der 1980er Jahre zu der größten Einwanderergruppe. Mit dem Zusammenbruch kommunistischer Regime in Zentral- und Osteuropa kamen tausende albanischer Flüchtlinge ins Land, die sich zum Teil illegal in Italien aufhielten. Erst langsam sah sich die italienische Regierung gezwungen, Maßnahmen zur Regulierung der Zuwanderung zu ergreifen.(14)

Erst im Laufe der 1990er und 2000er Jahre stieg die Anzahl von Ausändern stetig an. 1991 waren lediglich circa 356.000 Ausländer in Italien registriert. Ende 2013 waren es knapp 5 Millionen.(15) Dieser rapide Anstieg wurde von den Italienern entsprechend wahrgenommen. Die Bevölkerung geht davon aus, dass der Anteil der Ausländer an der Bevölkerung bei circa 30 Prozent liege; offizielle Statistiken sprechen dagegen von einem Ausländeranteil von lediglich circa 7 Prozent.(16)

Italien ist hingegen ein klassisches Auswanderungsland. Bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und im frühen 20. Jahrhundert waren die Italiener bei den intra-europäischen Migrationsbewegungen mitbestimmend. Hinzu kam eine starke Abwanderung nach Nord- und Südamerika sowie nach Australien. Um die Jahrhundertwende entwickelten sich die Vereinigten Staaten zum Hauptziel für 40 Prozent der italienischen Auswanderer.(17) In den 1960er Jahren kam es zu einer weiteren Auswanderungswelle u.a. nach Deutschland und nach Argentinien. Die Italiener wissen, was es bedeutet, das eigene L and auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen zu verlassen. Armut und fehlende Arbeit haben auch sie über Jahrzehnte gezwungen ihre Heimat zu verlassen. Wenn Papst Franziskus an die moralische Verantwortung bei der Aufnahme von Flüchtlingen appelliert und daran erinnert, dass auch er ein Kind italienischer Einwanderer in Argentinien ist – dann stößt er in der italienischen Gesellschaft auf Gehör.

Die Unterscheidung zwischen Wirtschaftsflüchtlingen und Kriegsflüchtlingen wird deshalb von vielen Italienern als problematisch empfunden und abgelehnt. Italien sieht sich mit vielen Wirtschaftsflüchtlingen konfrontiert – der größte Teil kommt über Libyen nach Italien. Gian Carlo Blangiardo, Demograph an der Universität in Bicocca, gibt dementsprechend zu bedenken, dass nicht der Krieg die hohen Flüchtlingszahlen nähre, sondern Armut und Hunger dafür verantwortlich seien und sich dies auch in Zukunft nicht ändern werde. „Der Krieg hört früher oder später auf und die Situation renkt sich wieder ein. Aber in den nächsten 20 Jahren werden in Nigeria 40 Millionen Menschen in ein arbeitsfähiges Alter kommen und in Äthiopien 25 Millionen. Das sind keine hypothetischen Kalkulationen, das sind jene Kinder, die heute zwischen 10 und 20 Jahren alt sind. Wer gibt ihnen Arbeit, Essen, Wasser und Unterstützung?“(18)

Von Regierungsseite wird jedoch zunehmend auf die Unterscheidung zwischen Wirtschaftsmigranten und Kriegsflüchtlingen hingewiesen. Innenminister Angelino Alfano: „Italien ist ein Land mit einem großen Herz.“(19) Wenn man eingreifen müsse um jemanden im Meer zu retten, dann werde man das auch in Zukunft tun, so der Innenminister. Allerdings müsse man danach zwischen Flüchtlingen unterscheiden, die aufgrund ihres Schutzbedürfnisses (und internationalem Recht) aufgenommen werden und jene die irregulär im Land seien und daher zurückgeschickt werden müssten.

Seenotrettung oder Küstenschutz?

Insbesondere Innenminister Alfano musste, was sein Vorgehen in der Flüchtlingsfrage betrifft, scharfe Kritik hinnehmen. Als bei dem Unglück am 3. Oktober 2013 vor Lampedusa mehr als 300 Menschen starben, reagierte die italienische Regierung mit „Mare Nostrum“. Unter Alfanos Federführung war diese bedeutsame Mission der Marine und Küstenwache aus der Taufe gehoben worden, die vor allem der Seenotrettung von Flüchtlingen galt. Mehr als 100.000 Menschen konnten innerhalb eines Jahres gerettet werden. Die Kosten lagen bei rund neun Millionen Euro pro Monat. Aufgrund des hohen finanziellen Aufwands in einem von der Wirtschaftskrise geschüttelten Italien, griffen ihn die Oppositionsparteien - insbesondere die Lega Nord – scharf an und warfen der Regierung vor, einen Pull-Faktor geschaffen und die Flüchtlinge durch Mare Nostrum regelrecht ermuntert zu haben, über das Mittelmeer nach Italien zu gelangen.

Die italienische Regierung forderte vielfach größere finanzielle Unterstützung seitens der EU, um der Situation im Mittelmeer zu begegnen. Erst als Italien im Sommer 2014 drohte die Operation einzustellen, begannen konkrete Verhandlungen.

Die Mission Mare Nostrum machte die bis zu dem Unglück am 3. Oktober 2013 wenig thematisierte Problematik deutlich, wo die Grenzsicherung der europäischen Außengrenzen aufhört und der Flüchtlingsschutz anfängt. Bereits 2004 wurde Frontex mit der Koordinierung der Sicherheit an den europäischen Außengrenzen beauftragt, um illegale Einreisen in die EU zu verhindern. Mit den zunehmenden Flüchtlingsströmen nach Europa gerieten auch die Methoden und Instrumente der Grenzsicherung von Frontex zunehmend in die Kritik.

Auf die ambitionierte Rettungsmission Mare Nostrum folgte im November 2014 die EU-Operation Frontex Plus; aus Frontex Plus wurde wenige Wochen später die auf drei Millionen Euro pro Monat zusammengestrichene europäische Mission Triton, die erneut die Grenzsicherung in den Mittelpunkt stellte. Während Mare Nostrum sein Rettungsgebiet bis nahe der libyschen Küste ausgeweitet hatte, die knapp 160 Seemeilen von Lampedusa entfernt ist, waren die Einsätze von Triton für den küstennahen Einsatz bestimmt und patrouillierten bis etwa 30 Seemeilen vor der italienischen Küste.

Am 19. April 2015 starben mehr als 800 Menschen im Mittelmeer vor der Küste Libyens. Dies war der entscheidende Moment, den Fokus erneut auf die Seenotrettung zu setzen und Triton mit monatlich weiteren sechs Millionen Euro auszustatten. Insgesamt starben im Jahr 2014 rund 3.400 Personen bei der Überfahrt nach Europa; bis September 2015 rund 3.000 Menschen.(20)

Der Ruf nach europäischer Solidarität

In einem offenen Brief in der italienischen Tageszeitung „Corriere della Sera“ vom 24. September 2015 schreibt Innenminister Angelino Alfano: „Gestern ist etwas Seltenes und Wichtiges geschehen: Europa hat nicht diskutiert, Europa hat entschieden. Und noch etwas Wichtiges und Seltenes ist geschehen: Europa hat zu Gunsten von Italien entschieden.“(21)

Alfano meint damit die Verteilung von 120.000 Flüchtlingen in der gesamten EU, die am 23. September von den europäischen Innenministern beschlossen wurde. „Unser Ansatz ist angenommen worden – ihr Reglement ist ausgehebelt. Dublin ist in der Krise“, so der Innenminister. Der Brief ist ein Befreiungsschlag – lange habe Italien während der humanitären Mission „Mare Nostrum“ den europäischen Chor ertragen müssen: „Das ist Eure Angelegenheit“. Nun habe man anerkannt, dass Italien Recht hatte, so Alfano. Der Brief, der einer Rechtfertigung gleicht, macht deutlich, wie sehr die italienische Regierung offensichtlich unter der fehlenden Wahrnehmung und Anerkennung Europas gelitten hat.

Endnoten

  1. http://frontex.europa.eu/trends-and-routes/migratory-routes-map/. Stand 28.09.2015.
  2. Frontex, 18.08.2015.
  3. La Repubblica, 27.08.2015.
  4. Sondaggio Demos & Pi, Juni 2015.
  5. Question Time am 23.09.2015.
  6. http://www.interno.gov.it/it/notizie/immigrazione-alfano-risponde-question-time-alla-camera, Stand 29.09.2015.
  7. Umfrage Demos & Pi, Juni 2015.
  8. Umfrage IPSOS für ISPI, 26.06.2015.
  9. Eurobarometer 82, November 2014.
  10. Eurobarometer 83, Mai 2015.
  11. http://www.interno.gov.it/it/notizie/presentato-expo-milano-rapporto-protezione-internazionale-italia-2015, Stand 29.09.2015.
  12. Libero Quotidiano, 23.07.2015.
  13. https://www.youtube.com/watch?v=U6OqiThTzcc, Stand 29.09.2015.
  14. http://www.bpb.de/gesellschaft/migration/laenderprofile/145669/historische-entwicklung-der-migration#footnode1-1, Stand: 29.09.2015.
  15. Quelle: Istat.
  16. https://www.ipsos-mo-ri.com/researchpublications/researcharchive/3466/Perceptions-are-not-reality-Things-the-world-gets-wrong.aspx, Stand 29.09.2015.
  17. http://www.bpb.de/gesellschaft/migration/laenderprofile/145669/historische-entwicklung-der-migration, Stand: 29.09.2015.
  18. Blangiardo, “invasione? No, è l’Ue che è impreparata. La vera emergenza sarà nei prossimi 20 anni. E colpirà l’Italia”, Il Fatto Quotidiano, 04.09.2015.
  19. Renzi: „Notte importante per l’Italia“. Alfano: „L’Europa ci ha dato ragione“, Il Messaggero, 24.09.15.
  20. http://sociale.corriere.it/migranti-leuropa-si-muove-ma-per-salvare-vite-servono-corridoi-sicuri-video/, Stand 19.09.2015.
  21. http://www.corriere.it/politica/15_settembre_24/lettera-alfano-corriere-migranti-europa-ragione-italia-18abade2-627b-11e5-95fc-7c4133631b69_print.html, Stand 29.09.2015.

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