Brasilien im Fokus
Das erste Jahr seiner Amtszeit widmete Präsident Luiz Inácio „Lula“ da Silva von der Arbeiterpartei PT (Partido dos Trabalhadores) dem Ziel, die teilweise eingefrorenen diplomatischen Beziehungen zu wichtigen Partnern weltweit wiederzubeleben. Lulas Reiselust wurde zudem von einer schieren Besucherflut wichtiger internationaler Akteure in Brasilien flankiert. Nicht nur fast das gesamte deutsche Bundeskabinett besuchte das größte Land Lateinamerikas. Hochrangige europäische und internationale Delegationen aus Politik und Wirtschaft gaben sich in Brasília, São Paulo und Rio de Janeiro die Klinke in die Hand.
Das Jahr 2024 knüpft ohne Verschnaufpause an das Vorherige an. So trafen bereits Ende Februar die Außenminister der G20 in Rio de Janeiro zusammen, gefolgt von den Finanzministern in São Paulo und zahlreichen Delegationen aus Politik und Wirtschaft. Zuletzt besuchte der französische Präsident Emmanuel Macron medienwirksam Präsident Lula.
Der Höhepunkt des ersten von zwei „Brasilienjahren“ wird am 18. und 19. November der G20-Gipfel in Rio de Janeiro bilden. Ein Jahr später ist die brasilianische Stadt Belém dann Gastgeberin des UN-Klimagipfels COP30.
Lulas außenpolitischer Balanceakt
Wie schon in seinen ersten beiden Amtszeiten zwischen 2003 und 2010 zielt Präsident Lulas aktuelle Außenpolitik auf die Stärkung einer multilateralen Weltordnung, der sogenannten Süd-Süd-Kooperation sowie der brasilianischen Führungsrolle in Lateinamerika ab. Das Motto der brasilianischen G20-Präsidentschaft „Building a just world and a sustainable planet“ und die drei damit einhergehenden thematischen Schwerpunkte nachhaltige Entwicklung, Reform der Global Governance Strukturen und Bekämpfung von Ungleichheiten untermauern diese Richtung der brasilianischen Außenpolitik. Viele von Lulas Forderungen und Ideen sind keinesfalls neu: z.B. die nach Reformen der internationalen Organisationen wie des UN-Sicherheitsrates oder der Weltbank. Allerdings ist sein Diskurs aktuell deutlich anti-westlicher als zuvor. Lula äußert regelmäßig Kritik an der politischen Überheblichkeit der „westlichen“ Staaten und der Einmischung in brasilianische Angelegenheiten, bleibt bei der Kritik an klar autoritären Regimen, wie z.B. in den Fällen Nicaragua oder Iran, jedoch oftmals sehr vage. Dass Brasilien auch unter Präsident Lula kein einfacher Partner sein würde, konnten viele Länder des sogenannten „Westens“ dann auch ziemlich bald nach seiner Amtseinführung feststellen. Der nach Lulas Wahlsieg über den rechtspopulistischen Präsidenten Jair Bolsonaro herrschenden Euphorie folgte ein gewisser Realitätscheck oder -schock, als Lula den europäischen Partnern eine weitgehendere Unterstützung für die Ukraine eine Absage erteilte. Des Weiteren sorgte Lula mit seiner fehlenden kritischen Positionierung gegenüber dem Regime im benachbarten Venezuela bei europäischen und lateinamerikanischen Partnern für Unverständnis: Der Ausschluss aussichtsreicher Oppositionskandidaten im Vorfeld der anstehenden Präsidentschaftswahlen in Venezuela hatte international große Kritik hervorgerufen. Erst Ende März, als die neue Kandidatin des Oppositionsbündnisses an der Einschreibung ihrer Kandidatur gehindert wurde, folgte eine offizielle Stellungnahme, die das brasilianische Außenministerium veröffentliche. In dieser wird das Vorgehen der venezolanischen Regierung und des dortigen Obersten Gerichtshofs klar kritisierte. Für viele Kritiker Lulas kam dies viel zu spät. Lula verharre in ideologischen Links-Rechts-Mustern des vergangenen Jahrhunderts, ist hierbei oft zu vernehmen.
Geopolitik, BRICS und die EU
Ein Sachverhalt fällt dem politischen Beobachter hier vor Ort schnell und deutlich auf: Die geopolitische Weltordnung gestaltet sich seit geraumer Zeit in einem rasanten Tempo um. Oder ist der Prozess nicht eigentlich schon viel weiter vorangeschritten, als auf den ersten Blick zu vermuten, und hat sich die Weltordnung mittlerweile schon gänzlich neugestaltet?
Eine der häufigsten Fragen der europäischen Besucher ist die nach Chinas Einfluss in der Region. Dass die Chinesen in vielen Ländern Lateinamerikas, auch in Brasilien, bereits seit vielen Jahren strategisch agieren und mittlerweile auch in vielen Bereichen dominieren, scheint viele dann paradoxerweise zu überraschen. Dies ist vielleicht mit der Entfernung von mehr als 9.500 km (ein Flug von Frankfurt nach Rio dauert mehr als 12 Stunden) und der damit verbundenen Unwissenheit zu entschuldigen. Doch dies ist auch kurz gedacht. Es ist nicht nur China, das in direkter Konkurrenz zu den Europäern in Brasilien und Lateinamerika steht. Länder wie Indien, Südafrika oder auch Russland haben sich in den letzten Jahren, nicht nur im Verbund der BRICS (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) oder jetzt BRICS+ (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika plus Ägypten, Äthiopien, Iran, Saudi-Arabien, Vereinigte Arabische Emirate) zu politisch und wirtschaftlich global agierenden Akteuren entwickelt. Eine Tatsache, die die Europäer bis heute unterschätzen. Hierbei wurden neue Allianzen geschmiedet und kontinuierlich unter dem Schirm der Süd-Süd-Kooperationen verfestigt. Nicht ohne Grund absolvierte Präsident Lula bereits eine viel beachtete Reise auf den afrikanischen Kontinent, nicht nur in die traditionell mit Brasilien verbundenen lusophonen Länder. Ein fast unsichtbarer Akteur in dieser sich neu ordneten geopolitischen Gemengelage sind die USA, denen in Brasilien aktuell nur wenig Beachtung in der (außen-) politischen Debatte gewidmet wird.
Vor diesem Hintergrund sollte es umso alarmierender für die Europäer sein, dass nach über 20 Jahren Verhandlungen immer noch kein Freihandelsabkommen zwischen dem südamerikanischen Wirtschaftsverbund MERCOSUL (Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay) und der Europäischen Union zustande gekommen ist. Im Dezember 2023 scheitere die bevorstehende Unterzeichnung am Widerstand des scheidenden argentinischen Präsidenten Alberto Fernández, aber maßgeblich bis heute eben auch am französischen Präsidenten Macron. Warum Lula seinen argentinischen Freund Fernández nicht überzeugen konnte oder wollte, bleibt unklar. Beim Besuch Macrons in Brasilien im März war Macrons Agenda daher auch eine französische und kam das Thema EU-MERCOSUL-Abkommen zumindest in der öffentlichen Debatte nicht vor. Es bleibt zu hoffen, dass europäische Stimmen Recht behalten und das strategische Assoziierungsabkommen doch noch nicht „tot“ ist. Es ist und bleibt ein Schlüsselelement, um den Europäern eine wichtige Rolle in Brasilien und Lateinamerika zu sichern. Ein Nicht-Abschluss des Abkommens würde viele lateinamerikanische Beobachter in ihrer Wahrnehmung bestätigen, die Europa als zögerlich ansehen, als einen Partner, der keine attraktiven Angebote macht und sich nach wie vor nicht auf Augenhöhe mit Lateinamerika begibt. So wurden z.B. die nationalen Sensibilitäten der Brasilianer mit Blick auf die Hoheit über den Amazonasregenwald aus Sicht vieler hier vor Ort von den Europäern schlicht weg ignoriert und einem „grünen“ Aktionismus aus der europäischen Politik und Zivilgesellschaft untergeordnet.
Beziehungen neu denken
Die Beziehungen zwischen Brasilien und Deutschland sowie Europa können auf eine lange positive Geschichte zurückblicken. In diesem Jahr wird z.B. das Jubiläum 200 Jahre deutsche Einwanderung begangen. Unternehmen wie Siemens und Bosch sind seit 180 bzw. 150 Jahren hier vor Ort tätig, kulturell und akademisch sind Deutschland und Brasilien eng miteinander verbunden. Trotzdem wird man das Gefühl nicht los, dass sich beide Seiten voneinander entfernt bzw. sich entfremdet haben, zumindest auf der politischen Ebene. Fehlende Kommunikation, Dialog und Austausch, gerade in den vier Jahren Regierung Bolsonaro, führen bis heute zu Missverständnissen. So reagierten die Europäer überrascht und fast empört, als sich Brasilien nicht stärker für die Ukraine einsetzen wollte. Dass Brasiliens außenpolitische Tradition stets eine Strategie der Neutralität verfolgt, die brasilianische Agroindustrie stark abhängig von russischen Düngerimporten ist und der Krieg für den Großteil der brasilianischen Bevölkerung keine Rolle spielt, wurde hierbei zunächst ausgeblendet.
Die jüngste europäische Charmeoffensive wurde in Brasilien mit offenen Armen begrüßt. Europäische und auch deutsche Politiker hatten sich in den letzten Jahrzehnten nur selten auf eine Reise ins fünftgrößte Land der Erde und in die mittlerweile neuntgrößte Volkswirtschaft gemacht. In der Hauptstadt Brasília weiß man, dass die neue Reisefreudigkeit nicht allein mit der Wahl von Präsident Lula zu tun hat. Vielmehr ist man sich sehr bewusst, dass die Europäer Alternativen im Bereich der Energie- und Lebensmittelversorgung benötigen und dass die sich ankündigende und bereits eintretende Klimakatastrophe nur gemeinsam mit Brasilien zu lösen sein wird. Neben der unglaublichen Größe Brasiliens wird aber vielen Besuchern und Beobachtern nach kurzer Zeit besonders eine unbequeme Tatsache schnell bewusst: Europa und Deutschland brauchen Brasilien. Brasilien braucht allerdings nicht zwangsläufig Deutschland und Europa.
In diesem Wissen vollzieht Brasilien außen- und wirtschaftspolitisch einen Balanceakt. Neutralität war und ist ein fester Bestandteil der brasilianischen Außenpolitik. Die aktuelle weltpolitische Lage erfordert jedoch in bestimmten Punkten eine klare Stellungnahme. Präsident Lula hat dies zuletzt in der Venezuela-Frage sowohl innen- als auch außenpolitisch zu spüren bekommen.
Partnerschaft auf Augenhöhe
In Brasilien erlebt man, wie sich die Welt, nicht nur Schwellen- und Entwicklungsländer, geopolitisch neuordnet und dass die Europäer gefühlt oftmals nur von der Seitenlinie zuschauen. Die Kritik an Brasilien, dass das Land nur nach innengerichtet agiert, müssen sich die europäischen Staaten nun ebenso gefallen lassen. Bauernproteste, Streiks und eine immer stärker werden politische Rechte haben in vielen europäischen Ländern dazu geführt, wichtige globalpolitische Fragen unbeantwortet zu lassen. Mehr internationale Zusammenarbeit auf politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Ebene ist der Schlüssel zur Lösung vieler globaler Fragen und keine nationalen Alleingänge. Europa täte gut daran, mit internationalen Partnern wie Brasilien gemeinsam auf Augenhöhe globale Lösungen zu suchen und zu erarbeiten.
Trotz aller aktuellen Hürden, Missverständnisse und Herausforderungen ist zu spüren, dass Brasilien und Europa einander eng verbunden sind. Brasilien ist das einzige Land in Lateinamerika, mit dem Deutschland seit 2008 eine strategische Partnerschaft führt und bereits zwei Mal, zuletzt im Dezember 2023, offizielle bilaterale Regierungskonsultationen durchgeführt hat. Nun ist es jedoch an beiden Seiten, die so hochgelobten und historisch-kulturell begründeten Beziehungen ins 21. Jahrhundert zu führen, weiterzuentwickeln und mit Leben zu füllen und die im Dezember 2023 in Berlin beschlossenen politischen Absichtserklärungen zügig umzusetzen.
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