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Marokko lanciert Kampagne gegen Islamismus

„Touche pas à mon pays!“ – Hände weg von meinem Land! – mit dieser Losung, die einer seinerzeit in Frankreich gelaufenen Antirassismus-Kampagne nachempfunden wurde, ist seit einigen Wochen in Marokko quasi jede Straßenecke und öffentliche Örtlichkeit plakatiert.

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Regierung, Gesellschaftsverbände, Zivilgesellschaft, Intellektuelle und Künstler bringen damit ihre Ablehnung und ihren Widerstand gegen islamischen Extremismus und Terrorismus zum Ausdruck, der mit den blutigen Selbstmordanschlägen in Casablanca nun auch in Marokko seine Präsenz auf schockierende Weise demonstriert hat. Die Kampagne soll deutlich machen, dass der radikale Islamismus in der marokkanischen Gesellschaft keine Unterstützung findet.

Parallel dazu hat die Regierung ein umfangreiches Paket an Maßnahmen eingeleitet, um das weitere Verbreiten islamistischer Tendenzen zu stoppen und den Prozess der Reformen zu mehr Modernität, Demokratie und Wirtschaftswachstum zu beschleunigen. Eine Woche nach dem Blutbad fand in Casablanca eine Großdemonstration statt, bei der laut offiziellen Schätzungen 2 Millionen Menschen gegen religiösen Hass, Gewalt, Intoleranz und Antisemitismus protestierten.

Die Serie von fünf simultanen Terroranschlägen in der marokkanischen Wirtschaftsmetropole Casablanca am 16. Mai 2003, bei denen 43 Menschen ums Leben kamen – darunter acht Europäer – hat das Land erschüttert.

Überwog bis dahin die Überzeugung, Marokko sei aufgrund seiner traditionellen religiösen und kulturellen Toleranz gegen extremistische Ausschweifungen gefeit, wurde nun deutlich, dass der radikale Islamismus als globales Phänomen keine Grenzen kennt. Dies wird um so eindeutiger, als nach bisherigen Erkenntnissen die Attentäter allesamt aus Marokko stammen und der radikalislamistischen Bewegung Salafija Dschihadija zuzuordnen sind.

Diese Bewegung hat ihren ideellen Ursprung in Saudi Arabien, und auch einige der wichtigsten Hintergrundmänner haben ihre theologische Ausbildung auf der arabischen Halbinsel erhalten. Obwohl die Anschläge symbolisch gegen ausländische, bzw. jüdische Ziele gerichtet waren – das spanische Kulturzentrum Casa Espagnol, das Hotel Farah, der jüdische Friedhof in der Altstadt, ein Restaurant mit jüdischem Besitzer sowie das jüdische Gemeindezentrum –, ist als eigentliches Ziel der Terroristen das marokkanische Regime zu vermuten, d. h. die Destabilisierung eines als westfreundlich und nichtreligiös empfundenen Systems.

Damit reiht sich dieser Terrorakt in die Logik der Aktivitäten von Al Qaida ein, wenn auch bislang keine direkten Verknüpfungen zu diesem internationalen Terrornetzwerk nachgewiesen werden konnten. Ein angeblich von Osama Bin Laden besprochenes und über den Nachrichtensender Al Dschasira verbreitetes Tonband hatte Marokko namentlich als eines der (vom nichtgläubigen Herrschaftssystem) „zu befreienden Länder“ und damit als potenzielles Terrorziel genannt.

Der wahhabitische Islam saudiarabischer Provenienz wird in Marokko seit den 70er Jahren von radikalislamistischen Gruppen, den sogenannten „Salafisten“ verbreitet. Die Anhänger der Glaubensrichtung „Salafija“, die im 17. Jahrhundert entstanden ist, wollen zur ursprünglichen Praxis des Islam während der Zeit der idealen muslimischen Gesellschaft (Umma) zur Zeit des Propheten zurückkehren („al-aslaf“ – die Ahnen, gemeint sind die Rechtgläubigen aus der Gründerzeit des Islam, d. h. die Gefolgsleute des Propheten Mohammed). Alle Entwicklungen nach den ersten drei Jahrhunderten des Islam gelten als Irrweg. Sie predigen eine buchstabengetreue Auslegung des Koran und lehnen alle kulturellen Zusammenhänge außerhalb der strikt religiösen Sphäre ab: Bildhauerei, Musik, Philosophie und Literatur ebenso wie andere Religionsformen und Kulturen. Es gibt verschiedene Strömungen der Salafija, von denen die Mitglieder der „Salafija Dschihadija“ die radikalsten sind.

Nach Erkenntnissen der Sicherheitsbehörden zählt die Anhängerschaft der Salafija Dschihadija einige Tausend (bis circa 10.000) Aktivisten, die in mehreren Gruppen vereint sind. Die drei wichtigsten Gruppierungen sind „Attakfir wal Hidschra“ (Sühnung und Auswanderung), die als älteste und größte Vereinigung das Rückgrat der Salafija Dschihadija bildet, die Gruppe „Assirat al Mustaqim“ (Rechter Weg), die für die Anschläge in Casablanca verantwortlich gemacht wird, sowie die Gruppe „Ahl Assuna wal Dschamaâ“.

Hinter jeder dieser Gruppierungen steht eine geistig-ideologische Autorität, ein Scheikh, sowie ein organisatorischer Anführer, Emir, der konkrete Aktivitäten anordnet und leitet. Wirkungsstätten der Salafisten sind die Elendsviertel der marokkanischen Städte, wie Casablanca (die Gruppen um Jussef Fikri und Miludi Zakaria), Fés (Mohammed Abdelwahab Rafiki, alias Abu Hafs), Tanger (Anhänger von Scheikh Mohammed Fizazi), Tétouan (Scheikh Abu Al Fadl Hadusch), Meknés (Scheikh Abdelkrim Chadili, alias Abu Ubaida) und Rabat-Salé (Scheikh Hassan Kettani). Eine gemäßigte Salafistengruppe wirkt in Marrakesch (Scheikh Mohammed Maghraoui).

Der wahhabitische Islam wird in Marokko mit erheblicher finanzieller Unterstützung aus Saudi Arabien, aber auch aus anderen Golfstaaten (Kuwait) verbreitet. Unter dem Deckmantel karitativer Vereinigungen fließen diese Gelder vor allem in Koranschulen, in den Bau von Moscheen für wahhabitische Prediger und auch in die Strukturen der Salafija.

Nach umfangreichen Fahndungen und Ermittlungen wurden 61 Personen, die mit den Terroranschlägen direkt in Verbindung gebracht werden, verhaftet und vor Gericht gebracht, sowie Hunderte weitere Personen aus dem Umkreis der Salafija Dschihadija festgenommen und verhört. Es konnten zwei Terrorzellen aufgedeckt werden, die weitere Anschläge in verschiedenen Städten Marokkos vorbereitet haben sollen. Ferner wurde festgestellt, dass alle 14 Selbstmordattentäter, von denen 12 bei den Anschlägen ums Leben kamen, aus dem Slumviertel Sidi Mumen in Casablanca stammen.

Während die Salafisten eine extreme, aber zahlenmäßig kleine Gruppe darstellen, ist für Marokko von weit größerer Bedeutung der sogenannte „moderate“, dem spirituellen Sufismus nahestehende Islamismus, der vor allem von der Bewegung „Al Adl Wal Ihsan“(Gerechtigkeit und Wohltätigkeit) um den charismatischen Scheikh Abdessalam Jassinrepräsentiert wird.

Auch die einzige offiziell zugelasene islamistische politische Partei „Gerechtigkeit und Entwicklung“ (Parti de la Justice et du Développement – PJD) ist dieser Strömung zuzuordnen. Die PJD hatte bei den letzten Parlamentswahlen im September 2002 überraschend hohe Stimmenzugewinne erzielen können und sich als drittstärkste Kraft im Parlament etablieren können. Im Unterschied zu den Salafisten streben die „moderaten“ Islamisten eine Veränderung des Systems nicht durch den gewaltsamen Dschihad an, sondern durch evolutionäre Entwicklung, durch politische Agitation und religiöse Überzeugungsarbeit an.

Die Anschläge von Casablanca haben eine Art „Wachrüttelungseffekt“ für das marokkanische gesellschaftspolitische System herbeigeführt. Ein bereits im Nachklang zum 11. September 2002 nach amerikanischen Vorbild verfasstes Antiterrorgesetz, das zunächst auf starken Widerstand der Islamisten - aber auch der Linksparteien und Bürgerrechtsbewegungen - gestoßen ist, hat mittlerweile problemlos das Parlament passiert.

König Mohammed VI. hat in einer Rede an die Nation Maßnahmen zur weiteren Beschleunigung der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Reformen und zur Bekämpfung von Ineffizienz, Inkompetenz und Korruption in der Staatsverwaltung angekündigt. Bislang festgefahrene, von konservativ-islamistischen Kreisen verhinderte Reformvorhaben, wie zum Beispiel das Gesetz zur Verbesserung der Stellung der Frau, liegen wieder auf dem Verhandlungstisch. Die Stimmung in der Bevölkerung hat sich deutlich zu Ungunsten der Islamisten gewandelt, mittlerweile kommen sogar Forderungen auf, die PJD zu verbieten.

Bei den im September 2003 anstehenden Kommunalwahlen wird sich zeigen, ob dieser Stimmungswechsel nur von temporärer Dauer ist, oder ob er eine nachhaltige Veränderung in der Gesellschaft einleiten kann. Eine unlängst (Mai 2003) vom Pew Research Center for the People and the Press durchgeführte Meinungsumfrage, wonach 64 Prozent der Marokkaner eine Demokratie nach westlichem Muster bevorzugen, lässt in diesem Sinne Optimismus aufkommen.

Die Regierung und der Palast nutzen die Empörung der Bevölkerung, um gegen die Islamisten auch politisch vorzugehen. Ein nur mäßiges Ergebnis der PJD bei den kommenden Kommunalwahlen würde dem politischen Islam in Marokko einen deutlichen Dämpfer erteilen. Bislang hatte man befürchtet, die Islamisten würden eine ähnliche Strategie wie die Islamistenpartei in der Türkei anstreben, nämlich durch die erfolgreiche Übernahme eines Bürgermeisteramtes in einer großen Stadt, wie z. B. Casablanca, ihre Tauglichkeit für eine Regierungsübernahme unter Beweis zu stellen.

Auch auf religiöser Ebene ist das Regime bemüht, den Islamismus einzudämmen. Der Rat der Ulema, der islamischen Rechtsgelehrten, hat in einer offiziellen Erklärung die Attentate verurteilt und als nicht vereinbar mit dem Islam deklariert. Das Ministerium für islamische Angelegenheiten, das die Imame ernennt, sowie das Innenministerium, haben Vorkehrungen getroffen, um Prediger der Salafija von den Moscheen fern zu halten bzw. die Errichtung von illegalen Moscheen zu verhindern.

Entscheidend für den Erfolg der Antiislamismus-Kampagne wird jedoch sein, inwieweit es langfristig gelingen wird, eine spürbare Verbesserung der Lebensverhältnisse der Menschen in Marokko herbeizuführen. Soziale Misere, Arbeitslosigkeit, Analphabetismus, Perspektivlosigkeit und Enttäuschung über die langsame Umsetzung der Reformen, das sind die Phänomene die den Islamisten Zulauf bescheren und die eine große Gefahr für die bislang fragilen Ansätze einer Demokratie in Marokko und die weitere Entwicklung des Landes darstellen.

Wichtig ist deshalb, dass die reformorientierten Kräfte um den König, in der Regierung, in den Parteien aber auch in der sehr aktiven und effizienten marokkanischen Zivilgesellschaft ihren Einfluss auf die politische Entwicklung weiter stärken können.

Marokko bekennt sich zu den Werten der Demokratie, des Pluralismus, der Toleranz und des Dialogs der Kulturen. Dies sollte von den westlichen Partnerländern, insbesondere der Europäischen Union als direktem Nachbar Marokkos, entsprechend honoriert und unterstützt werden.

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Dr. Helmut Reifeld

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