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Essay

Die Corona-Krise aus globalhistorischer Perspektive.

von Prof. Benedikt Stuchtey

Aspekte von Unsicherheit und Gesundheitspolitik in der Geschichte der Imperien.

Ähnlich wie in früheren Gesundheitskrisen mit globalem Charakter zeigt sich in der aktuellen Corona-Krise sowohl die Notwendigkeit internationaler Kooperation als auch die Schwierigkeit, diese umzusetzen. Zugleich ist es auffallend, dass globale Risiken hervorrufende Pandemien grundsätzlich mit nationalstaatlichen Mitteln bekämpft wurden, wie das auch aktuell der Fall ist. Die Weltrisikogesellschaft stößt an diesem Punkt an ihre Grenzen.

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Wenn die Häufigkeit des Gebrauchs eines Begriffs daraufhin deutet, wie wichtig er ist und tatsächlich den von ihm benannten Zustand abbildet, dann trifft dies auf „Krise“ und „Weltkrise“ aktuell durchaus zu. Reinhart Koselleck (1923−2006) hat in einem Artikel in den Geschichtlichen Grundbegriffen die Verbindung von Krise und Alltagserfahrung gezogen und den Althistoriker Barthold Georg Niebuhr (1776–1831) mit den Worten zitiert, es lasse sich bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts feststellen, dass die Geschichte der Epidemien als Teil der Gesundheitskrise fest zur Weltgeschichte gehöre. Die Wahrnehmung politischer, sozialer, ökonomischer, kultureller, militärischer und vieler anderer Unsicherheiten, Nöte, Zwangslagen, Ausweglosigkeiten und mit weiteren Bezeichnungen erfassbaren Ausnahmezustände ist, mit anderen Worten, so wie diejenige medizinischer Krisen schon immer auch eine über den regionalen und nationalen Rahmen hinausreichende gewesen. Sie in eine globalhistorische Perspektive zu stellen, liegt deshalb auf der Hand. Dieser Essay wendet sich der Corona-Krise in globalhistorischer Perspektive in drei Schritten zu und behandelt (I.) den Krisenbegriff, (II.) die Weltrisikogesellschaft, Gesundheitspolitik und Epidemien imperialgeschichtlich, sowie abschließend in knappen Strichen (III.) Vorsorgepolitik im Spiegel von Sicherheitsdynamiken.

 

I. Der Krisenbegriff

Nun kennzeichnet den Krisenbegriff die zeitliche Dauer des Prozesshaften und er ist selbst Teil einer geschichtlichen Zeit oder einer Epoche oder aber auch einer Übergangszeit. Der Definition als Phänomen einer Übergangszeit liegt die Erwartung zugrunde, die Krise sei nicht ein Dauerzustand, sie sei überwindbar und es bestünde berechtigte Hoffnung, dass sie keine Wiederholung aus der Geschichte darstelle, weil sich die Qualität von Geschichte und der sie bestimmenden Menschen und Strukturen grundsätzlich und prinzipiell immer wieder verändert. Ist jede Hoffnung nicht ohne Befürchtung,  jede Erwartung nicht ohne Ängste denkbar, so zeichnet sich der Krisenbegriff in die Gegenwart ein, indem er die Zukunft vorweg nimmt und prognostisch eine langfristige Spannung entwirft, die beides, die gemachten Erfahrungen aus dem Erlebten und die entworfenen Erwartungen an Kommendes, freisetzt.

Entsprechend diagnostiziert der Krisenbegriff zum einen analytisch das zu bezeichnende Problem und prognostiziert zum anderen politisch Lösungsvorschläge, letzten Endes auch, um die Herausforderungen der Zukunft über eine gewisse Planbarkeit einzuhegen. Im erwarteten Übergangscharakter der Krise – sei sie in jüngerer Zeit eine Wirtschafts-, Finanz-, Euro-, Klima-, Flüchtlings- oder moralische Krise oder wie im aktuellen Fall eine medizinische Krise – kommen die Intensitäten zum Ausdruck, die sie entweder im institutionellen oder im situativen Kontext verstehen lassen. In jedem Fall konturieren ihre Wendepunkte, die auch als „Wellen“ begriffen werden können, die Offenheit für die Zukunft: Denn nicht jeder historische Schatten ist so tief, dass die Zukunft ohne Alternative wäre, und nicht jede Krise so einzigartig, dass sie nicht in Typologisierungen, beispielsweise auch ihres Verlaufs, systematisiert werden könnte. Mit solchen Typologisierungen können Ähnlichkeiten und Vergleichbarkeiten herausgestellt werden.

Wenige haben dies so veranschaulicht wie Jacob Burckhardt (1818–97), dessen Weltgeschichtliche Betrachtungen die Geschichtlichkeit der „Potenzen“ (Staat, Religion, Kultur) bzw. Bedingtheiten wie zum Beispiel Revolutionen und Kriege betonen, nicht ohne sie zu relativieren. Nach Burckhardt nämlich hat der Krisenbegriff auch etwas Inflationäres und birgt deshalb die Gefahr, an Präzision und Stringenz zu verlieren. Dass Situationen „krisengeschüttelt“ sind oder deren Bewältigung sich als „Krisenmanagement“ herausstellt, geht hiermit einher. Maßgeblich scheint jedoch zu sein, dass die offene Zukunft dem fortschreitenden historischen Prozess eingeflochten ist und auch aus diesem Grund die Krise im Unterschied zum Konflikt in ihrem Übergang erfahren wird.

Diese Beobachtung lässt in der aktuellen Corona-Krise die Frage danach aufscheinen, welche der weltgeschichtlichen „Potenzen“ Burckhardt zufolge die eigentlich wirksame Kraft darstellt: Gründen in seinen Augen Staat und Religion auf Gewalt, so die Kultur als Spiegel freien Denkens und Handelns auf Aufklärung und Wissenschaft sowie in deren Fortsetzung als in ihrer Entfaltung unabhängige Erwerbsgesellschaft. Dieser gesellschaftliche Moment und sein Erfolg riefen nicht nur die „Crisis des Staatsbegriffs“ hervor, sondern die neue Macht der Gesellschaft, die sich in dieser Sichtweise vor allem von der Ökonomisierung des Lebens beeinflussen lasse. Am Horizont sah Burckhardt die industrielle Massendemokratie und eine neue Form des Staates kommen, die als Antwort auf den Druck sozialer und wirtschaftlicher Probleme unumgänglich geworden sei, mithin den Wohlfahrtsstaat. Nicht die Revolution, sondern die Sozialisierung, nicht der abrupte, sondern der schleichende Prozess lösten die Krise aus, für die in der Antike Karthago, nicht Athen Pate stand. Der Zivilisationsprozess, der technische Fortschritt, in der Summe die „bewegliche“ Kultur im Gegensatz zum „stabilen“ Staat legten die materielle Grundlage für diesen neuartigen Krisenbegriff. Würde die Gesellschaft über den Staat Oberhand gewinnen, so würde die Weltgesellschaft als die sich geltend machende und ausdehnende Potenz als „äußerliche Gesamtform der Kultur“ entstehen.

 

 II. Weltrisikogesellschaft, Gesundheitspolitik und Epidemien in der Perspektive der Geschichte der Imperien

Insofern lässt sich mit Burckhardt die Krise weniger eindeutig negativ deuten, als es den Weltgeschichtlichen Betrachtungen gemeinhin zugeschrieben wird. Ein Buch, das nur durch beständiges Fragen ergründet werden kann, lädt dazu ein, das gegenwärtige, durch die Corona-Epidemie ausgelöste Krisenphänomen im Licht des Spannungsfelds zwischen Kontinuum und Übergang zu sehen. Die Erwerbsgesellschaft, die mittlerweile den Charakter der postmodernen und der postindustriellen Gesellschaft oder auch der Risikogesellschaft angenommen hat, hat der Soziologe Ulrich Beck (1944–2015) als „Weltrisikogesellschaft“ bezeichnet. Ihre Eigenschaft ist es, dass sich ihr Sicherheits- und Kontrollvorkehrungen im herkömmlichen Sinne zunehmend entzogen haben und dass jenseits einkalkulierter Gefahren (wie Genforschung, atomare militärische Hochrüstung, Großtechnologie, weltweite Umweltzerstörung, Ressourcenverschwendung) in verstärktem Maße Zurechnungskonflikte über nicht-Einkalkulierbares stattfinden. Zwar sind auch Seuchen und Epidemien globalgeschichtlich gesehen nicht über Nacht in Erscheinung getreten, weder Pest noch Cholera, Malaria oder Gelbfieber. Aber die Frage nach Verantwortlichkeit, Sicherheit, Schadensbegrenzung und nach dem Umgang mit Schadensfolgen hatte im Fall dieser medizinischen Krisen stets eine globale Dimension. Deshalb ist das Präfix „Welt“ in Verbindung mit Krisen, Risikogesellschaft und Sicherheitsmaßnahmen stets gerechtfertigt gewesen. Spätestens in der Moderne haben sich die Gefahrenpotentiale der durch Epidemien hervorgerufenen Krisen derartig gesteigert, dass sie das Vorstellungsvermögen der sie betreffenden Gesellschaften weit überforderten, weil sie weder historisch anschlussfähig an in der Weltgeschichte gemachte Erfahrungen noch zukünftig vorhersehbar für mit wissenschaftlicher Bestimmbarkeit erstellte Erwartungen waren.

Indem die Gesellschaften mit ihren eigenen Grenzen in aller Schärfe konfrontiert und die Grundlagen von bisherigen Sicherheitsvorstellungen erschüttert wurden, mussten sie akzeptieren, ein kontinuierliches Risiko in sich zu tragen. Nicht zuletzt berührte dieses Risiko das Selbstverständnis von politischem, sozialem, religiösem und kulturellem Leben – der Gemeinschaft wie des Einzelnen. Die Wahrnehmung von Gefahren, die ebenso gut Hungersnöte und Naturkatastrophen sein konnten, war dabei direkt geknüpft an die Definition von Szenarien, die mit den Krisen in Verbindung standen : Zunächst beinhaltete dies die Kalkulation von Krankheits- und Todesfällen, damit einhergehenden sozialen und ökonomischen individuellen Auswirkungen wie Arbeitslosigkeit und Armut; des Weiteren waren die Gefahren der Möglichkeiten von Fehlentscheidungen gegeben, etwa wie die Statistiken geführt oder wann Quarantänemaßnahmen eingeführt werden sollten; schließlich waren die Risikokalkulationen eng verknüpft mit Fragen von Schuld, Verantwortung und Haftung.

 

Unsicherheit als Krisenmerkmal

In welcher Dimension ließen sich Schäden gegebenenfalls kompensieren, welche von ihnen waren versicherungsfähig? Die Risikogesellschaft, mit einem Wort, ist im Zeichen von Epidemien zunehmend selbstreflexiv geworden, sie hatte zu lernen, im Vorzeichen des Risikos zu planen und im Nachgang der Krise, sofern sie ein Übergangsphänomen darstellte, Vorkehrungen für Zukünftiges zu treffen. Und weil so viele Unwägbarkeiten in diese Aufeinanderfolge von krisenhaften Ereignissen eingewoben sind, ist bisher noch keine Epidemie in der Weltgeschichte ohne geschürte Ängste, falsche Vorhersagen, die heute als „fake news“ bezeichnet werden, und ganz besonders die Produktion von vermeintlich Schuldigen, also Sündenböcken, ausgekommen.

            Die Weltrisikogesellschaft mitsamt ihrer Krise oder ihren Krisen ist unter der Prämisse, dass die sie betreffenden Gefahren wie Seuchen und Epidemien mit großer Wahrscheinlichkeit wiederkehrten und je nach zeitlichem Abstand zwischen den Krisen eher ein zeitliches Kontinuum bestand, wohl auch in Form einer Abfolge von Brüchen, in der Tat eine so globalgeschichtliche Erscheinung wie die Fragestellungen, die sie aufgeworfen hat. Während in der Gegenwart das demokratische System auch hinterfragt wird, zumal es in den Augen Einiger zu ordnungsstaatlichen Maßnahmen greift, die demokratische Grundprinzipien beschneiden könnten, hat Ulrich Beck dafür bereits 2007 die Formulierung eines „legitimen Totalitarismus der Gefahrenabwehr“ gefunden. Man wird dieser Formulierung nicht zustimmen müssen, um doch das Dilemma zu erkennen, in dem sich der demokratische Staat schon immer befunden hat, wenn er im Krisenbewusstsein Gefahren für die Gesellschaft einerseits bekämpfen, andererseits Rechte derselben Gesellschaft vorübergehend beschneiden musste. In dieser Hinsicht ist die Risikogesellschaft seit jeher das Kontrastmodell zur über Planbarkeit definierten Industriegesellschaft gewesen. Denn wenn Krisen wie Epidemien- und Seuchenausbrüche in der Globalgeschichte eines veranschaulichten, dann die Unüberschaubarkeit des Moments, die ihrerseits in der Regel in die zumindest vorübergehende Abwehr von Verantwortlichkeit mündete.

 

Epidemien als Problem der Gesellschaften als Ganzes

Dabei konnte und kann diese Abwehr stets nur von sehr kurzer Dauer sein. Weniges kennzeichnet die Krisenhaftigkeit von globalen Epidemien in der Vergangenheit und der Corona-Krise aktuell so stark wie der Umstand, dass jede und jeder Einzelne an ihr unmittelbar sowie an den Folgen beteiligt ist. Unbeteiligte gibt es nicht, vom verursachten Schaden Betroffene sind auf irgendeine direkte oder indirekte Weise alle, und zwar jenseits von Geschlecht, Alter, sozialer Zugehörigkeit, beruflicher Biographie usw. Kompetenzen und Entscheidungsprozesse wurden und werden zwar sodann zugewiesen und geteilt, aber durchaus auch zur Sache neuer Konfliktlinien, die die Ergebnisse unterschiedlichen Expertenwissens und unterschiedlicher politischer Positionen waren und sind. In der Summe sind die Herausforderungen durch die Krise von so elementarer Natur, dass sie weniger die Macht von Staat und Gesellschaft als vielmehr deren Ohnmacht illustrieren. Wie weit sie in der Geschichte den Strukturwandel beschleunigten, ist eine andere Frage.

Diese Herausforderungen ergeben sich aus der Verteilung von Risiko und Unsicherheit ebenso wie aus der Erkenntnis, dass auch die instrumentelle und wissenschaftliche Beherrschbarkeit der Welt, von der Gesellschaftstheorien der Moderne wie selbstverständlich ausgehen, an ihre Grenzen stößt, beispielsweise in dem Augenblick, in dem ein Impfstoff gegen eine Infektion noch nicht entwickelt worden ist. War er entwickelt, so gab es immer auch Impfgegner, berühmt etwa die Frankokanadier, die sich mit Gewaltausbrüchen gegen Pockenimpfungen in Montreal im Jahr 1885 zur Wehr setzten. Hinweise auf Risiken und Nebenwirkungen der Dialektik der Verwissenschaftlichung des Lebens fanden und finden sich eben nicht in der Packungsbeilage, dafür aber in jener Apotheke, die die Denkmuster von verwissenschaftlichter Sicherheit, Eindeutigkeit und Rationalität hinterfragt und stattdessen auf die Erosion von Unsicherheiten und Ambivalenzen der Gesellschaften verweist.

Insbesondere in Gesellschaftsstrukturen der Imperien, die zwangsläufig Gefahren vielfältigster Art ausgesetzt waren, spielte dies eine wichtige Rolle. Hier lässt sich zudem feststellen, dass die Globalisierung mitnichten notwendigerweise eine Beschleunigung nach sich zog. Ungeachtet von moderner Dampfschifffahrt und Eisenbahnen, Telegrafie und transnationalem Postwesen konnte Globalisierung ebenfalls Entschleunigung hervorrufen, wie die vielen Quarantäne-Stationen in den internationalen Überseehäfen illustrieren. Sie dienten der Durchsetzung von Seuchen- bzw. Gesundheitspolitik und konnten die Migration von Kontraktarbeitern in das Binnenland um Wochen verzögern. Ellis Island vor New York steht sinnbildlich für den Verlangsamungsprozess der transatlantischen Migration.

 

Verbreitung von Epidemien im 19. Jahrhundert

Weil es für Epidemien und Infektionskrankheiten keine Grenzen gibt und sie sich in globalen Zirkulationsräumen bewegen, ist es naheliegend, ihre medizinischen, hygienischen und gesundheitspolitischen Aspekte nicht losgelöst von der Sozial- und Kulturgeschichte zu betrachten, spielten doch immer schon in die Bekämpfungspolitik von Seuchen und die Anwendbarkeit von Schutzimpfungen die Ernährung bzw. Hungersnöte eine bedeutende Rolle. Welchem der strukturellen Krisenfaktoren die größte Aufmerksamkeit gebührt, ist eine Frage der Perspektive. Im Indien des 19. Jahrhunderts fügten sich die Regelmäßigkeiten von großen Hungerkatastrophen und Choleraausbrüchen beispielsweise ineinander. Mehr noch: der Indische Ozean ist von Medizinhistorikern wie David Arnold (geb. 1946) als Großregion der „disease zone“ zwischen der Vormoderne und Indiens Unabhängigkeit bezeichnet worden. Südostasien, das in dieser Hinsicht besser erforscht ist als Teile des afrikanischen Kontinents, besaß gemeinsam mit dem karibischen Raum stets den Charakter einer Drehscheibe von Epidemien, eine „crossroad-region“ der Ansteckungsgefahren und Übertragungspotentiale. Dichter konnten die Krisensymptome zeitweise kaum zueinander liegen.

In der Tat ist das lange 19. Jahrhundert (1780–1920) exemplarisch für epidemiologische Umbrüche bisher unbekannten Ausmaßes. Menschliche, tierische und pflanzliche Krankheiten verbreiteten sich in Windeseile und im globalen Maßstab, beispielsweise über Seeleute, Soldaten, Handelstreibende und Missionare, und respektierten weder lokale, nationale noch imperiale Grenzen. Sie sprechen der so lange dominanten Geschichtsschreibung in diesen Kategorien Hohn und schreiben der globalen Perspektive das Potential zu, die Vergangenheit von Krisen und Katastrophen sowie der Vorsorgemaßnahmen gegen sie vor dem Hintergrund einer zunehmenden Verwundbarkeit der Menschheit auch als eine Geschichte der Neudefinitionen von Barrieren und Hindernissen zu begreifen. So brach gegen Ende des 18. Jahrhunderts in der Karibik Gelbfieber aus, verbreitete sich im Zeichen der Revolutionswirren und -kriege in Frankreich und auf Haiti über den westlichen Atlantik und erreichte in den 1820er Jahren mit Gibraltar und Barcelona die Mittelmeerküste. Aus östlicher Richtung zog zur gleichen Zeit über Malta die Pest von Südasien nach Europa.

 

Beschleunigte Verbreitung von Erregern

Pandemische Ausmaße konnten die Infektionskrankheiten nur deshalb erhalten, weil sie erstens über die neuen beschleunigten Transportmöglichkeiten (Dampfschifffahrt, Eisenbahn) erstmals transozeanische und transkontinentale Entfernungen überbrückten, und weil zweitens über das Telegrafennetzwerk Nachrichten über den Ausbruch der Krankheiten in kürzester Zeit global verbreitet wurden. Das war mit den großen Grippeepidemien 1889−93 und 1918−19 besonders dramatisch der Fall. Und bereits die Hungersnot in Irland 1845−49, ausgelöst durch einen aus Peru eingeführten Pilz, der die Kartoffelfäule verursachte, kostete geschätzt mindestens 800.000 Menschen ihr Leben. Hungersnöte hatte es weltweit in regelmäßigen Abständen gegeben, besonders häufig waren sie in Bengalen, aber auch in Italien 1846/47, Spanien 1856/57 und Finnland 1867 standen sie in der Regel in unmittelbarem Zusammenhang mit importierten, auch tierischen und pflanzlichen Krankheiten. Importiert wurden diese über Handel, Migration, Kriege, religiöse Pilgerreisen und vieles andere.

War der Sklavenhandel etwa im Britischen Empire bereits 1807 abgeschafft worden, so existierte er in kolonialen bzw. semikolonialen Kontexten bis weit in das 19. Jahrhundert fort, zum Beispiel in Brasilien bis 1888. Eine Alternative war später der Einsatz von Vertragsarbeitern vielfach aus China und Indien, die schon auf der Überfahrt Cholera und Pocken an Bord hatten. Sie arbeiteten nicht nur in den Gold- und Diamantenminen Südafrikas, sondern auch auf den großen Teeplantagen von Assam, die sie über die Flüsse erreichten. Eine „typische“ Epidemie der Plantagenarbeiter war die Cholera, ebenso verbreitet unter den Arbeitern, die die Eisenbahnlinien in Indien, Kenia, Rhodesien, Kanada, Sibirien und anderswo bauten. Oftmals war sie die Folge von Monokulturen und hierin der Malaria vergleichbar, die auf den unermesslich großen, ausgefeilt für einen globalen Handel kommerzialisierten Reisfeldern bestens gedieh. Denn die künstlich eingebauten Kanäle und Bewässerungssysteme boten perfekte Brutplätze für die Moskitos, zumal deren natürliche Feinde infolge der Monokulturen dezimiert waren. Längst war Reis zu einem weltweit gehandelten Grundnahrungsmittel geworden, seine aufwendige Produktion ihrerseits abhängig von der ständigen Zufuhr neuer Arbeiter, die unter schlechten Bedingungen, mangelhaft ernährt, beengt wohnten und unter diesen Umständen zusätzlich an Tuberkulose erkrankten. In der Summe lässt sich daraus schlussfolgern, dass Epidemien grundsätzlich vom globalen Transfer profitierten, dass sie dazu beitrugen, wie Bewegungsräume neu vermessen wurden, und dass sie globale Verbindungsräume schufen. Doch diese Prozesse waren nicht eindimensional, und sie konnten nicht weniger das Gegenteil, die Quarantäne, hervorrufen.

 

III.  Vorsorgepolitik im Spiegel von Sicherheitsdynamiken

Die gegenwärtige Gesundheitspolitik greift auf einige bewährte Methoden der Vergangenheit zurück. Bewegungsströme von Menschen, Tieren und Dingen zu lenken, war immer schon in Kriegszeiten komplizierter und erforderte ein größeres Ausmaß an Reglementierungen  als in Friedenszeiten, und die Wahrscheinlichkeit, dass sich Epidemien etwa aufgrund von Truppenverlegungen ausbreiteten, war größer. Quarantänen einzurichten, war allein eine nationale Angelegenheit, zumal in Anbetracht des Risikos für die jeweilige Volkswirtschaft.

Um 1900 änderten sich die Strategien insofern, als anstelle der Beschränkung von Bewegungsfreiheiten eine stärkere Überwachung und Präventivmaßnahmen eingeführt wurden. In jedem Fall hingen gesundheitspolitische Entscheidungen von Produktivitätserwägungen ab. Krisen, wie eingangs definiert, verschärften sich in dem Moment, in dem Arbeitskräfte, die man im Überfluss wähnte, plötzlich zum Mangel wurden. Gleichwohl wäre es zu vereinfacht, von Epidemien ausgelöste Krisen per se als Globalisierungsphänomene zu definieren, auch wenn sie Wandel in globalen Dimensionen herbeiführten. Was sie letztlich global machte, waren die Sicherheitsdynamiken, die sie in Gang setzten sowie die politischen, ökonomischen, sozialen, kulturellen, ökologischen und klimatischen Transformationen, die sich mit ihnen verbanden und unter deren Einfluss  sie sich erst vollends entwickelten. Es ist naheliegend, dass wohlhabendere Gesellschaften des Westens diese Spannungsfelder besser für sich nutzen konnten als ärmere des globalen Südens. Zugleich ist es auffallend, dass globale Risiken hervorrufende Pandemien grundsätzlich mit nationalstaatlichen Mitteln bekämpft wurden, wie das auch aktuell der Fall ist.  Die Weltrisikogesellschaft stößt an diesem Punkt an ihre Grenzen. Die Sicherheitsdynamiken, auf die sie Antworten sucht, begreift sie zwar als weltweit anzuwendende, weil Gesundheit keine Grenzen hat, doch letztlich agieren die Spezialisten und Experten in ihren nationalen Kontexten.

 

Globale Krisen bergen Chancen für die internationale Zusammenarbeit

Eine Ausnahme davon waren allerdings bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Internationalen Gesundheitskonferenzen, die erstmals in Paris 1851 und bis 1894 acht Mal stattfanden. Die Verwundbarkeit Europas und der Welt hatte sich angesichts der dritten Cholera-Pandemie von 1839−56 deutlich offenbart. Diese war in Malaysia und im südöstlichen China ausgebrochen, hatte sich über britische, in den Opium-Kriegen eingesetzte Soldaten weiter nach Burma verbreitet, war in einer anderen Infektionskette durch Bengalen nach Bombay gelangt, von dort nach Aden und Persien, erreichte das Russische Reich und Moskau im September 1847 und weiter den Norden und Westen Europas 1848. Französische Seeleute brachten die Cholera nach New York, deutsche Händler aus Hamburg nach New Orleans. Die gleiche Epidemie setzte sich bis 1849 nach Chicago durch, reiste mit den Goldsuchern nach Kalifornien und südlich nach Kuba und Jamaika. Das war ohne Zweifel eine globale Qualität, wie sie die Vormoderne noch nicht erreicht hatte, denkt man zum Beispiel an das Gelbfieber, dem im 17. Jahrhundert 15 Prozent der Bevölkerung von Barbados erlag. Ähnlich wie bei der erwähnten Hungersnot Irlands waren es hier nicht allein die Todeszahlen, die die Inseln zeitweise zu verlassenen Orten machten, sondern die überdurchschnittlich hohe Zahlen von Emigranten, die vor den Epidemien und den Hungersnöten flohen.

Weil sie gleichsam um den Globus ging, illustrieren die Cholerakrise ähnlich wie die Pest, die den Großraum zwischen Bombay und Hongkong 1896 bis 1918 heimsuchte, sowie die aktuelle Corona-Krise die Probleme, mit denen die involvierten Akteure wie Politiker, Ärzte und Verwaltungen konfrontiert waren. Die als notwendig erachtete Umsetzung einer internationalen Kooperation zeigte sich in der praktischen Realität stets als höchst kompliziert. Der Verflechtung der Welt, ihrer Transport- und Kommunikationswege, der Migration von Menschen und Keimen, stand die Erwartung kontrollierbarer Grenzen gegenüber. Der Widerspruch auf den ersten Blick wich der Wirklichkeit auf den zweiten: nicht anders als in der Gegenwart waren Gesundheit und Sicherheit verhandelbare Themen geworden, die Durchlässigkeit von Grenzen und die Spielräume für transnationale Beweglichkeit hingen von der Bereitschaft ab, sich gegen die Epidemien und trotz der Epidemien zusammenzuschließen, die Globalität der Krise als Chance der internationalen Kooperation zu begreifen, und doch Permeabilität in ihren unterschiedlichsten Formationen stetig neu definieren zu müssen. Das lässt die Schlussfolgerung zu, dass Epidemien als Krisen in der Globalgeschichte trotz ihres Umbruchscharakters in historischen Kontinuitätslinien denkbar sind. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sie nicht auch zu größeren Umbrüchen führen können.

 

Benedikt Stuchtey ist  Inhaber des  Lehrstuhls für Neueste Geschichte an der Philipps-Universität Marburg.

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