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Polen entscheidet sich für die EU

von Dr. Henning Tewes

Das Referendum ist positiv und gültig

Mit einem klaren „ja“ hat Polen an diesem Wochenende für den Beitritt zur EU gestimmt. Bei 58,48% Beteiligung waren 76,87% Ja-Stimmen; nur 23,13% der abgegebenen Stimmen entfielen auf das „nein“.

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Das auf zwei Tage angesetzte Referendum hatte aus verfassungsrechtlichen Gründen zwei Hürden. Zum einen musste eine einfache Mehrheit mit „ja“ stimmen, zum anderen musste eine einfache Mehrheit der Wahlberechtigten überhaupt am Referendum teilnehmen, damit die Gültigkeit des Referendums gesichert war. Da die Meinungsumfragen in den letzten Monaten eine klare Mehrheit für den EU-Beitritt versprochen hatten (je nach Umfrage zwischen 60% und 70%), konzentrierte sich die Aufmerksamkeit in den letzten Tagen vor allem auf die Wahlbeteiligung.

Im Gegensatz zu vielen anderen postkommunistischen Ländern ist die Wahlbeteiligung in Polen grundsätzlich niedrig. Sowohl bei Parlamentswahlen als auch bei Lokalwahlen liegt die Beteiligung fast immer unter 50%; lediglich die Präsidentschaftswahlen bewirken durch ihre Personalisierung einen leichten Anstieg (auf etwas über 50%). Als Regel aber bleibt festzuhalten, dass zwischen 45% und 60% der Wahlberechtigten am demokratischen Prozess keinen Anteil nehmen.

Auch an diesem Wochenende schienen die Schwächen der polnischen Demokratie offensichtlich. Im Gegensatz zu Litauen und zur Slowakei, wo 23% bzw. 25% am ersten Tag bereits ihre Stimme abgegeben hatten, lag die Beteiligung in Polen bei gerade 17,58%. Noch besorgniserregender war die Entwicklung am Sonntag. Denn das sonst übliche Verhalten der meisten Wähler, die den sonntäglichen Kirchgang mit dem Wahlgang beenden, schien ausgesetzt. Meinungsforschungsinstitute gaben die (geschätzte) Beteiligung um 14 Uhr mit nur 32% an. Wie Phoenix aus der Asche stieg die Beteiligung dann am späten Nachmittag. Um 17 Uhr lag die Wahlbeteiligung bei leicht über 45%, um 18 Uhr – also gerade zwei Stunden vor dem Schließen der Wahllokale – war von den Meinungsforschungsinstituten dann zu hören, dass die geschätzte Beteiligung bei über 50% lag. Der eigentliche Schub über die 50%-Hürde auf fast 60% war daher in den letzten drei Stunden des Referendums entstanden.

Die Unterschiede im Abstimmungsverhalten spiegeln das seit langem bekannte gesellschaftliche Meinungsbild zur EU wieder. Während 88% der Wahlberechtigten mit Hochschulbildung für den EU-Beitritt stimmten, lag die Zustimmungsrate bei Menschen mit niedrigem Bildungsstand bei 74,5%. Auch eine Teilung zwischen Stadt und Land ist sichtbar. In den großen Städten (über 200.000 Einwohner) stimmten 86% mit „ja“, auf dem Land nur 74%. Auch regionale Unterschiede treten deutlich zu Tage. In den Wojewodschaften, die an Deutschland grenzen, war die Zustimmungsrate besonders hoch. In Westpommern (um Stettin) und Schlesien (Kattowitz) lag sie bei 86%, im Oppelner Land und Niederschlesien (Breslau) bei 85%. In den östlichen Wojewodschaften hingegen war die Zustimmungsrate deutlich niedriger. In den Vorkarpaten (Rzeszow, Przemysl) stimmten 77% mit „Ja“, in Podlachien (um Bialystok) 75%, in der Wojewodschaft um Lublin nur 70%.

Das Alter spielte bei der Wahlentscheidung erstaunlicherweise keine Rolle. Während aus Umfragen hervorging, dass besonders die Jungen für den EU-Beitritt zu mobilisieren sein würden, wurde die Entscheidung am diesem Wochenende von den älteren Wählern ebenso mitgetragen. Über 82% der über 60-Jährigen stimmten mit „ja“, aber „nur“ 80% der unter 24-Jährigen.

Das parteipolitische Profil der Ja-Stimmen bestätigt lang genährte Vermutungen. Nach ihnen sind die Wählerschaften von SLD und Bürgerplattform (PO) und der Freiheitsunion (UW) mit über 90% besonders europafreundlich. Aber auch die Wählerschaften von Bauernpartei PSL und der Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) liegen mit 72% bzw. 80% Zustimmung erfreulich hoch. Bemerkenswert ist ebenfalls das Wahlverhalten der Anhänger der beiden populistischen Parteien. Die anti-europäische, nationalistische „Liga der Polnischen Familien“ hat mit 35% immerhin ein Drittel ihrer Wähler an das Lager der Europa-Befürworter abgeben müssen, während die „Samoobrona“ des Bauernführers Andrzej Lepper sogar 50% ihrer Wähler mit „ja“ abstimmen sah. Offensichtlich existiert in beiden Parteien ein Unterschied zwischen der ideologischen Ausrichtung der Parteiführung und einem eher pragmatischen Wahlverhalten der Wähler.

Für Demokratie und Zivilgesellschaft in Polen waren die letzten Tage und Wochen eine Stunde der Wahrheit. Noch nie hatte die politische Elite sich so intensiv ans Volk gewandt, noch nie waren historische Trennlinien für die gemeinsame europäische Zukunft mit einer solchen Leichtigkeit überwunden worden, noch nie hatte sich schließlich ein - für Polen - so hoher Anteil an Wahlberechtigten zum demokratischen Akt entschlossen. Die geschichtliche Bedeutung der gestrigen Entscheidung wird von den meisten Beobachtern mit der halbfreien Wahl vom 4. Juni 1989 verglichen, welche das Fenster zum Abschütteln des Kommunismus in Polen aufgestoßen hatte.

Für die nächsten Tage rechnen viele Beobachter der politischen Szene mit einer tief greifenden Regierungsumbildung. Vieles deutet darauf hin, dass sowohl Finanzminister Grzegorz Kolodko wie auch Infrastrukturminister Marek Pol in Kürze ihr Amt aufgeben müssen. Dariusz Rosati, ehemaliger polnischer Außenminister und international anerkannter Professor für Geld- und Finanzpolitik ist als Nachfolger von Kolodko im Gespräch. Doch auch diese Veränderung würde für Ministerpräsident Miller wahrscheinlich nur eine vorübergehende Atempause bedeuten.

Dennoch finden alle Enthüllungen, Streitigkeiten und Skandale in der polnischen Politik – von den es in den letzten Wochen und Monaten einige gab - ab heute doch in einem deutlich ruhigeren Fahrwasser statt. Ein wegen einer zu niedrigen Wahlbeteiligung ungültiges Referendum, welches die Entscheidung über den EU-Beitritt automatisch Sejm und Senat übertragen hätte, hätte die politische Landschaft auf eine nicht zu erahnende Weise durcheinander gewirbelt. Solche Gedankenspiele sind nun Schnee von gestern. Polen hat auf dem Weg zur EU-Mitgliedschaft eine lange Strecke zurückgelegt. Die Tür zum europäischen Haus ist nun offen und der Gast von der Weichsel muss nur noch einen Schritt tun, um einzutreten.

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Dr. Angelika Klein

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Leiterin der Abteilung Stabsstelle Evaluierung

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2. Juni 2003
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